Jesus von Nazareth: Prolog - Die Kindheitsgeschichten (German Edition)
Übersetzung richten. Wer sind die „Menschen seiner Gnade“?Gibt es welche, die nicht in seiner Gnade sind? Und wenn, warum? Die wörtliche Übersetzung aus dem griechischen Urtext lautet: Friede „den Menschen des Wohlgefallens“. Auch hier bleibt selbstverständlich die Frage: Welche Menschen stehen in Gottes Wohlgefallen? Und warum?
Nun, zu dieser Frage finden wir eine Verständnishilfe im Neuen Testament. Im Bericht über die Taufe Jesu erzählt uns Lukas, dass, während Jesus betete, sich der Himmel öffnete und eine Stimme vom Himmel her kam, die sagte: „Du bist mein Sohn, der geliebte. An dir habe ich Wohlgefallen“ (Lk 3,22). Der Mensch des Wohlgefallens ist Jesus. Er ist es, weil er ganz in der Zuwendung zum Vater, im Hinschauen auf ihn und in der Willensgemeinschaft mit ihm lebt. Menschen des Wohlgefallens sind demnach Menschen, die die Haltung des Sohnes haben – christusförmige Menschen.
Hinter der Differenz der Übersetzungen steht letztlich die Frage nach dem Verhältnis von Gottes Gnade und menschlicher Freiheit. Zwei extreme Positionen sind hier möglich: Zunächst die Vorstellung von der absoluten Alleinwirksamkeit Gottes, in der alles von seiner Vorherbestimmung abhängt. Auf der anderen Seite steht eine moralisierende Position, in der letztlich alles durch den guten Willen des Menschen entschieden wird. Die ältere Übersetzung von den Menschen „des guten Willens“ konnte man in dieser Richtung missverstehen. Die neue Übersetzung kann in der umgekehrten Richtung missdeutet werden, als hinge alles allein von Gottes Vorherbestimmung ab.
Das gesamte Zeugnis der Heiligen Schrift lässt keinen Zweifel daran, dass keine der beiden Extrempositionen richtig ist. Gnade und Freiheit durchdringen sich, und ihrIneinander können wir nicht in klare Formeln auflösen. Es bleibt wahr, dass wir nicht lieben könnten, wenn wir nicht zuerst von Gott geliebt wären. Gottes Gnade geht uns immer voraus, sie umfängt und trägt uns. Aber es bleibt auch wahr, dass der Mensch zum Mitlieben gerufen ist, dass er nicht willenloses Werkzeug von Gottes Allmacht bleibt, sondern mitlieben oder sich auch der Liebe Gottes verweigern kann. Mir scheint die wörtliche Übersetzung – „des Wohlgefallens“ (oder „seines Wohlgefallens“) – am ehesten dieses Geheimnis zu respektieren, ohne es nach einer Seite hin aufzulösen.
Was die Herrlichkeit in der Höhe angeht, so ist hier selbstverständlich das „ist“ bestimmend. Gott ist herrlich, die unzerstörbare Wahrheit, die ewige Schönheit. Das ist die grundlegende, tröstende Sicherheit unseres Glaubens. Dennoch gibt es – den ersten drei Geboten des Dekalogs gemäß – in nachgeordneter Weise auch hier einen Auftrag an uns: dafür einzustehen, dass Gottes große Herrlichkeit in der Welt nicht befleckt und entstellt werde, dass seine Größe und sein heiliger Wille in Ehren gehalten werden.
Nun müssen wir aber noch einen Aspekt der Engelsbotschaft bedenken. In ihr kehren die Grundkategorien wieder, die das Selbstverständnis und Weltbild von Kaiser Augustus bestimmen: sōtēr (Retter), Friede, Ökumene – hier freilich über die Welt des Mittelmeerraums hinaus ausgeweitet auf Himmel und Erde; schließlich auch das Wort von der frohen Botschaft (euangélion). Diese Parallelen sind sicher nicht zufällig. Lukas will uns sagen: Was Kaiser Augustus für sich in Anspruch nahm, ist in höherer Weise in dem Kind verwirklicht, das wehrlos und machtlosin der Grotte zu Bethlehem geboren wurde und dessen Gäste arme Hirten gewesen sind.
Reiser betont mit Recht, dass im Mittelpunkt von beiderlei Botschaft der Friede steht und dass dabei die Pax Christi sich nicht unbedingt im Gegensatz befindet zur Pax Augusti. Aber der Friede Christi übersteigt den Frieden des Augustus so wie der Himmel die Erde (vgl. Wie wahr …, a. a. O., S. 460). Die Konfrontation von beiderlei Frieden muss also nicht einseitig polemisch gesehen werden. Augustus hat in der Tat „für 250 Jahre Frieden, Rechtssicherheit und einen Wohlstand (gebracht), von dem heute viele Länder des ehemaligen Imperium Romanum nur noch träumen können“ (ebd., S. 458). Der Politik ist durchaus ihr eigener Raum und ihre eigene Verantwortung gelassen. Aber freilich – wo sich der Kaiser vergöttlicht und göttliche Qualitäten in Anspruch nimmt, überschreitet die Politik ihre Grenzen und verspricht, was sie nicht leisten kann. Tatsächlich waren Rechtssicherheit, Friede, Wohlstand auch in der
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