Jesus von Nazareth: Prolog - Die Kindheitsgeschichten (German Edition)
hineinschauen dürfen. Das Kind Jesus wird in der Anrede an Gott als „dein Heil“ bezeichnet. Das Wort sōtēr (Retter, Heiland), das uns in der Engelsbotschaft der Heiligen Nacht begegnet war, klingt an.
Zwei christologische Aussagen werden in diesem Lied gemacht. Jesus ist „Licht zur Erleuchtung der Heiden“ und ist da zur „Herrlichkeit deines Volkes Israel“ (Lk 2,32). Beide Worte sind dem Propheten Jesaja entnommen, das Wort vom Licht zur Erleuchtung für die Heiden dem ersten und zweiten Lied vom Gottesknecht (vgl. Jes 42,6; 49,6). So wird Jesus als der Gottesknecht identifiziert, der beim Propheten als eine geheimnisvolle, in die Zukunft weisende Gestalt dasteht. Zum Wesen seiner Sendung gehört die Universalität, die Offenbarung an die Heiden, zu denen der Knecht Gottes Licht trägt. Das Wort von der Herrlichkeit Israels ist in den Trostworten des Propheten an das verängstigte Israel gerichtet, dem Hilfe durch Gottes rettende Macht angekündigt wird (Jes 46,13).
Nachdem Simeon mit dem Kind in den Armen Gott gepriesen hat, wendet er sich mit einem prophetischen Wort an Maria, der er nach den Freudenworten über das Kind eine Art von Kreuzesprophetie zuspricht (vgl. Lk 2,34 f). Jesus ist „dazu bestimmt, dass in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele auferstehen“; zum Zeichen, dem widersprochen wird. Schließlich wird der Mutter eine ganz persönliche Vorhersage gemacht: „Deine Seele wird ein Schwert durchdringen.“ Mit der Theologie der Herrlichkeit ist die Theologie des Kreuzes untrennbar verbunden. Zum Gottesknecht gehört die große Sendung, Träger von Gottes Licht für die Welt zu sein. Aber diese Sendung wird gerade im Dunkel des Kreuzes erfüllt.
Im Hintergrund des Wortes vom Fallen und Auferstehen vieler klingt eine Prophezeiung aus Jes 8,14 an, inder Gott selbst als ein Stein bezeichnet wird, an den man anstößt und an dem man zu Fall kommt. So erscheint gerade in dem Passionsspruch die tiefe Verbindung Jesu mit Gott selbst. Gott und sein Wort – Jesus, das lebendige Wort Gottes – sind „Zeichen“ und fordern zur Entscheidung heraus. Der Widerspruch des Menschen gegen Gott durchzieht die ganze Geschichte. Jesus erweist sich gerade dadurch als das wahre Zeichen Gottes, dass er den Widerspruch gegen Gott auf sich nimmt, an sich zieht bis zum Widerspruch des Kreuzes hin.
Hier wird nicht von Vergangenheit gesprochen. Wir alle wissen, wie sehr heute Christus Zeichen eines Widerspruchs ist, der im Letzten Gott selbst gilt. Gott selbst wird immer wieder als die Grenze unserer Freiheit gesehen, die beseitigt werden müsse, damit der Mensch ganz er selber sein könne. Gott steht mit seiner Wahrheit der vielfältigen Lüge des Menschen, seiner Eigensucht und seinem Hochmut entgegen.
Gott ist Liebe. Aber die Liebe kann auch gehasst werden, wo sie das Heraustreten über sich selbst hinaus fordert. Sie ist nicht romantisches Wohlgefühl. Erlösung ist nicht Wellness, ein Baden im Selbstgenuss, sondern gerade Befreiung von der Verzwängung ins Ich hinein. Diese Befreiung kostet den Schmerz des Kreuzes. Die Lichtprophetie und das Wort vom Kreuz gehören zusammen.
Zuletzt wird dieser Leidensspruch, wie wir gesehen haben, ganz konkret – ein Wort direkt an Maria: „Deine Seele wird ein Schwert durchdringen“ (Lk 2,35). Wir dürfen annehmen, dass dieser Satz in der frühen judenchristlichen Gemeinde als Wort aus der persönlichen Erinnerung Marias festgehalten worden ist. Dort wusste man auchaus solcher Erinnerung, was dieser Satz konkret bedeutet hatte. Aber auch wir können es mit der glaubenden und betenden Kirche wissen. Der Widerspruch gegen den Sohn trifft auch die Mutter und schneidet sie ins Herz. Das Kreuz des radikal gewordenen Widerspruchs wird für sie zum Schwert, das die Seele durchbohrt. Von Maria können wir das wahre Mitleiden lernen, ganz unsentimental im Annehmen fremden Leidens als eigenes Leid.
Bei den Vätern wurde die Fühllosigkeit, die Unempfindlichkeit dem Leiden anderer gegenüber als typisch für das Heidentum angesehen. Dem stellt der christliche Glaube den Gott entgegen, der mit den Menschen mitleidet und uns so ins Mitleiden hineinzieht. Die Mater Dolorosa, die Mutter mit dem Schwert im Herzen, ist Urbild für diese Grundgesinnung christlichen Glaubens.
Neben den Propheten Simeon tritt die Prophetin Hanna, eine 84-jährige Frau, die nach siebenjähriger Ehe jahrzehntelang als Witwe gelebt hat. „Sie verließ nie den Tempel und diente (Gott)
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