Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch
wird hier zum Lieblingsjünger Jesu, zeigt ihm »Geheimnisse, die noch kein Mensch gesehen hat«.
Im Nikodemusevangelium wird die Höllenfahrt Christi geschildert. Es gibt das Petrus-, das Ägypter-, das Ebionitenevangelium, entstanden offenbar in jenen frühchristlichen Gemeinden, die nur Juden aufnahmen, gegen den Missionsanspruch des Paulus. In anderen Gemeinden war das Nazaränerevangelium in Gebrauch, das wohl dem Matthäusevangelium sehr nahe war. Und dann gab es Dutzende von Schriften wie das Protevangelium des Jakobus, in denen die Kindheit Jesu und das Leben Mariens bunt ausgeschmückt wurde; erbauliche Texte, die in der entstehenden Volksfrömmigkeit eine wichtige Rolle spielten und deren Legenden bis heute ein eigentümliches Nachleben führen. Ochs und Esel an der Weihnachtskrippe entspringen einer solchen Erzählung. Zahlreiche katholische Marienfeste sowie das Dogma von der »unbefleckten Empfängnis Mariens« haben ihren Ursprung in diesen verborgenen, »apokryphen« Schriften.
Sie haben nicht den Weg ins Neue Testament gefunden, sie wurden verdrängt. Manche aus dem einfachen Grund, dass die Entwicklung der jungen Religion über sie hinwegging: Die Judenchristen wurden zunehmend zur Minderheit und verschwanden schließlich, andere Evangelien blieben eine Zeitlang in bestimmten Gemeinden populär, bis eine jüngere Generation die kanonischen Schriften übernahm. In der Ablehnung des Thomasevangeliums zeigt sich, wie knallhart im entstehenden Christentum um die theologische Richtung gekämpft wird. Bedeutsam ist die Abgrenzung von gnostischen Lehren, die im Vorderen Orient weitverbreitet waren. Sie charakterisiert eine esoterische Spiritualität. Das Heilswissen teilt sich nur den Eingeweihten mit. Das wahrhaft Göttliche steht in vollkommenem Gegensatz zur Welt, die das Produkt eines bösen Schöpfergottes ist. Ziel ist die Seele aus ihren materiellen Verstrickungen zu lösen und zum göttlichen Lichtreich zurückzuführen.
Das in Nag Hammadi gefundene Schriftgut zirkuliert in gnostisch-christlichen Gemeinden; der Leib ist für sie nur das Gefängnis der Seele, sie verachten ihn, dort liest man aus dem Thomasevangelium. Der Autor des Judasevangeliums scheint dagegen eher einer jener Gruppen angehört zu haben, die dem verderbten Körper freien Lauf ließen, mit Schlemmerei und sexueller Libertinage. Die Gnostiker gewinnen Anhänger, die Mehrheitskirche reagiert nervös. Irenäus von Lyon wird Ende des 2. Jahrhunderts der erste große Ketzerbekämpfer, fünf Bücher schreibt er »Gegen die Häresien«. Die junge Kirche verwirft die Gnosis und damit alle Schriften, die gnostisch inspiriert sind – selbst das Johannesevangelium und die Apokalypse geraten in Gefahr, weil sie in gnostischen Gemeinden beliebt sind.
Die Geschichte der Kanonisierung ist also auch eine Geschichte der Ausgrenzung. Die entstehende Kirche verwirft, wahrscheinlich im Jahr 144, auch die radikale Forderung des reichen Reeders Markion, das ganze Alte Testament zu verwerfen und nur die Paulus-Briefe und das Lukasevangelium gelten zu lassen – und gibt ihm die 200000 Sesterzen zurück, die er in die Kasse der römischen Gemeinde eingezahlt hatte. Sie trennt sich auch von den Anhängern des Montanus, der den Beginn eines tausendjährigen Reiches mit der Wiederkunft Christi prophezeit hatte.
Evangelist Johannes
(Gemälde von Giovanni del Biondo, um 1365)
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Kein Konzil stimmt über die Auswahl ab, keine Kirchenväterversammlung genehmigt sie. Der heutige Kanon setzt sich durch, weil er die Schriften integriert, die in den Gemeinden das höchste Ansehen genießen. Er setzt sich aber auch durch, weil diese Auswahl in hohem Maße anschlussfähig ist. Es gibt vier Evangelien, nicht eins, das macht die junge Religion flexibel. Die Texte sprechen die Juden an und die Heiden, sind in der Tradition der Tora zu Hause und in der hellenistisch-römischen Philosophie, sie verwenden die damalige Weltsprache Griechisch und verdrängen das Aramäische, das in der Urgemeinde in Jerusalem noch gesprochen wurde.
Sowohl das nahe Ende der Welt als auch der Abschied von dieser Vorstellung lassen sich im Neuen Testament finden. Jesus ist der Herr der Welt und der Freund der Armen, real in der Welt und doch nicht von der Welt, politisch und mystisch zugleich, ohne esoterisch zu werden. Das Vielfältige und Vieldeutige macht den Erfolg der jungen Religion aus.
An den Rand aber geraten die Frauen. Jesus hatte vermutlich Jüngerinnen,
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