Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch
Gebote, die Mose für sein Volk auf dem Berg Sinai empfing, enthalten eine Botschaft, die den Sittlichkeitslehren der so verschiedenen fernöstlichen Religionen verblüffend ähnelt: Nur wer sein Leben gut führt und seine Mitmenschen achtungsvoll behandelt, kann nach seinem Tod erlöst werden.
Während die großen Religionen aus Fernost im Lauf ihrer Geschichte im Wesentlichen auf den Kontinent ihres Ursprungs und die ostasiatischen Inseln beschränkt blieben, wuchsen Judentum und christlicher Glaube bald über ihren Entstehungsraum im Vorderen Orient hinaus. Wesentlichen Anteil daran hatte das Römische Reich. Im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. verjagte die Besatzungsmacht Rom die aufständischen Israeliten aus Palästina. Das »Volk Gottes« wurde in alle Winde verstreut, und die geistige Heimat seiner heiligen Schriften musste ihm fortan das verlorene »Gelobte Land« ersetzen. Der Weg des Christentums zur Universalreligion verlief anders. Er führte über gut 300 Jahre vom Status einer vielfach verfolgten Untergrundsekte im Römischen Reich zu dessen Staatsreligion. Der Jesusglaube dehnte sich mit der Macht des Römischen Reichs aus und setzte seinen Aufstieg auf dessen Ruinen erfolgreich fort.
Die im Nahen Osten entstandenen Weltreligionen verbindet mit denen des Fernen Ostens der Glaube an eine sittliche Grundordnung der Welt und eine moralische Verantwortlichkeit des Menschen. Was beide Seiten aber fundamental voneinander trennt, sind die Vorstellungen von Transzendenz und Göttlichkeit. Der Religionswissenschaftler Helmuth von Glasenapp identifizierte in seinem Klassiker »Die fünf Weltreligionen« eine geografische Grenze, die die Weltreligionen scheidet – den Hindukusch.
HINDUISMUS
Die östlich dieses Gebirgszuges entstandenen Glaubenssysteme charakterisierte er als »Religionen des ewigen Weltgesetzes«: danach habe die Welt »keinen ersten Anfang und kein definitives Ende, sondern erneuert sich unaufhörlich im Wege sukzessiven, wechselnden Entstehens und Vergehens«. Anderes lehren jene Religionen, die westlich des Hindukusch ihren Ursprung haben. Sie machen, so Glasenapp, »die Existenz des Kosmos und seiner Bewohner von dem Wirken eines von der Welt verschiedenen und ihr unendlich überlegenen persönlichen Gottes abhängig, der alles aus dem Nichts ins Dasein gerufen hat und alles autonom mit unbeschränkter Machtvollkommenheit, gemäß seinem unerforschlichen Ratschluss, nach einem festen Plan regiert«.
Auch wenn beiderseits des Hindukusch ebenfalls Glaubensformen entstanden, die zwischen den gegensätzlichen Grundauffassungen vermitteln, sieht der Forscher, in einem schönen Bild, das Gebirge doch als »die große geistige Wasserscheide in der Religionsgeschichte der Menschheit«. Östlich davon bildete sich im Gebiet des Indus-Flusses der danach benannte Hinduismus. Einige Wesenszüge dieser Religion, wie die Verehrung bestimmter heiliger Pflanzen und Tiere oder der Phalluskult, sollen bis auf das 3. Jahrtausend vor Christus zurückgehen. In ihrer entwickelten Form, mit der führenden Priesterkaste der Brahmanen und den Vorstellungen von Seelenwanderung und Erlösung, gilt sie als Produkt des ersten vorchristlichen Jahrtausends. Wenn jeder Versuch, die Eigenart komplexer Religionen mit wenigen Sätzen zu skizzieren, verwegen ist, so gilt dieser Vorbehalt erst recht für den beispiellos vielgestaltigen Hinduismus.
Nicht Wort und Gedanke eines Stifters halten ihn zusammen, sondern die Kontinuität der Entwicklung, die in ungebrochenem Strom Altertum und Gegenwart verbindet. Die Hindus nennen ihren Glauben auch die »Ewige Religion«, weil zu allen Zeiten immer wieder weise Männer und göttliche Inkarnationen aufgetreten seien, um die alte Wahrheit neu zu verkünden – ob sie nun Rama, Krishna und Manu oder wie auch immer hießen. Der bildkräftige Glasenapp vergleicht den Hinduismus mit einem Urwald, dessen wildes Wachstum verschiedene Persönlichkeiten zu verschiedenen Zeiten durch das Schlagen von Pfaden zu meistern suchten. Das Christentum dagegen erinnere eher an einen Garten – von einem Einzelnen planvoll angelegt, von den Nachfolgern ausgebaut.
Eine fest umrissene Dogmatik kennt der Hinduismus nicht. Seine theoretische Metaphysik beschränkt sich im Kern auf die Auffassung, dass der Kosmos ein geordnetes Ganzes ist und von einem Weltgesetz (»Dharma«) beherrscht wird, das den Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt (»Samsara«) einschließt. Alle Lebewesen haben von Geburt an
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