Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch
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SPIEGEL: … die besonders benachteiligt waren im Römischen Reich.
MARKSCHIES: Kaiser Julian, der im 4. Jahrhundert vom Christen wieder zum Heiden wurde, hat gesagt: Hätten wir es geschafft, eine effektive Sozialfürsorge zu organisieren, wäre die Sekte der Galiläer nicht so erfolgreich geworden. Außerdem spielt damals sicher eine Rolle, dass ich als Christ in ein religiöses System hineinkomme, in dem ich mit individueller Schuld umgehen kann. Und die Christen argumentieren im Alltag bald präziser als Jesus von Nazareth selbst, sie legen beispielsweise genau fest, wie viel Zinsen gegeben werden können, ob die Schwägerin geheiratet werden darf. Das heißt, ich bekomme eine relativ klare Orientierung für mein Leben und weiß auch noch, was nach dem Tod kommt. Zudem bin ich Teil eines starkes Netzwerks, also wenn ich Kaufmann aus Trier bin und fahre nach Dura Europos an der heutigen syrisch-irakischen Grenze, da weiß ich, ich muss bloß in die Stadt hineingehen und das nächste christliche Wohnhaus aufsuchen, schon habe ich Unterkunft.
SPIEGEL: Auffällig ist die besondere Sprache der Evangelien, wenn man etwa an die Gleichnisse denkt. Sie übersetzen ja philosophische, theologische Probleme in praktische Lebenslösungen.
MARKSCHIES: Jesus ist ein Weisheitslehrer, in der antiken Kultur ist das etwas sehr Bewundertes, wenn einer Sätze sagt, über die man lange nachdenken kann, und der Geschichten erzählt, faszinierende Gleichnisse eben. Ich muss kein Ethik-Kompendium lesen, um zu erfahren, was zentrale Lebensaufgaben sind.
SPIEGEL: Nehmen wir das Gleichnis vom verlorenen Schaf: Wenn einer von euch 100 Schafe hat und eines davon verliert, lässt er dann nicht die 99 in der Steppe zurück und geht dem verlorenen nach, bis er es findet? Woher kommt diese Kraft, die bis heute spürbar ist?
MARKSCHIES: In diesem Gleichnis sehe ich eine der authentischen Überlieferungen, weil es mit galiläischer Lebenswirklichkeit zu tun hat. Ich kann mir schlecht vorstellen, dass Lukas, der doch ein gebildeter Mensch ist, an seinem Schreibtisch in Antiochia oder wo auch immer sitzt und sich überlegt: Der Jesus ist doch durch solche Dörfchen gegangen, da machen wir mal ein Schafgleichnis.
SPIEGEL: Unsere Quellen sind stets die vier großen Evangelien – aber inwieweit sind sie denn glaubwürdig? Die Evangelisten waren ja keine Augenzeugen.
MARKSCHIES: Die Evangelien sind sich alles in allem überraschend ähnlich. Es gibt unterschiedliche theologische Tendenzen, aber es ist doch viermal die mehr oder weniger selbe Geschichte.
SPIEGEL: Es gibt aber auch deutliche Unterschiede. Die Bergpredigt, die steht so nur bei Matthäus, bei Lukas ist es eine Feldrede.
MARKSCHIES: Aber wenn man die vier direkt nebeneinanderlegt, sieht man doch, wie wenig verschieden die Texte sind. Das ist eine mündliche Kultur. Wenn man in der Antike zum Priester ordiniert wurde, musste man ein Evangelium auswendig können. Die Worte und die Gleichnisse Jesu werden memoriert, Leute können enorme Textmengen auswendig.
SPIEGEL: Was ist mit den offiziell nicht anerkannten Evangelien, den Apokryphen – wie viel unbekannte und unterdrückte Wahrheit steht darin?
MARKSCHIES: Ich ediere gerade die Übersetzung der antiken christlichen Apokryphen, das sind sämtliche Schriften, auf denen Evangelium draufsteht oder die so aussehen, zusammen 1200 Seiten. Und es bleibt dabei: Es gibt kaum authentische Jesus-Worte, die nicht in den kanonischen Evangelien stehen. Das ist öffentlich zwar schwer zu vermitteln, weil es immer spannender ist, über ein unbekanntes Evangelium zu spekulieren, als beim Altbekannten zu bleiben.
SPIEGEL: Aber manches ist doch wirklich neu.
MARKSCHIES: Nun ja, der Versuch von christlichen Gnostikern, ihre Geheimlehren mit dem historischen Jesus zusammenzubringen, ist sicher interessant. Im Kindheitsevangelium nach Thomas finden sich ein paar sekundäre Kindergeschichten Jesu, etwa dass er aus Lehm Tonvögelchen macht, die anpustet, und dann fliegen sie los. Oder dass ihn ein anderes Kind ärgert und er das Kind tot umfallen lässt zur Strafe. Das sind theologiegeschichtlich hochspannende Texte, aber über den historischen Jesus sagen sie bestürzend wenig.
SPIEGEL: Die Erkenntnis, dass einige Frauen zum Kreis um Jesus gehörten, ist eines der Ergebnisse der historisch-kritischen Jesusforschung, auch die Betonung der Tatsache, dass Jesus Jude war. Was sind für Sie die wichtigsten Resultate?
MARKSCHIES: Diese beiden
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