Jesus von Texas
schießt in den hinteren Teil meiner Nase. Der Staatsanwalt hält inne, um meinem Körper genug Raum zu geben, sich vor laufenden Kameras zu verraten.
»Nachdem also deine Anwesenheit an den Schauplätzen von vierunddreißig Morden festgestellt wurde, erzählst du uns, du warst auf der Flucht.« Er macht Stielaugen für die Jury. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum.« Glucksendes Lachen holpert durch den Saal.
»Weil alle mich verdächtigt haben«, sage ich.
Der Staatsanwalt wirft seine Arme zur Seite. »Das wundert mich nicht - nach vierunddreißig Morden!« Er bleibt einen Moment still stehen, nur seine Schultern zucken vor stummem Gelächter. Er schüttelt den Kopf. Er tupft sich die Augenbraue ab. Er wischt sich eine Träne aus einem Augenwinkel, atmet tief durch, und als er dann ein paar Schritte auf meinen Käfig zustolpert, zittert er immer noch vor Vergnügen. Doch als er mir in die Augen schaut, brennt sein Blick.
»Du warst am 20. Mai dieses Jahres in Mexiko?«
»Äh - das war der Tag der Tragödie, also - nein.«
»Aber eben hast du doch dem Gericht gesagt, du warst in Mexiko zum Zeitpunkt der Morde.«
»Ich meinte die letzten, die danach ...«
»Ach, jetzt verstehe ich - du bist während einiger Morde nach Mexiko gefahren - ist das jetzt deine Geschichte?«
»Ich wollte nur sagen ...«
»Laß mich dir auf die Sprünge helfen«, sagt er. »Du behauptest jetzt, daß du während einiger der Morde in Mexiko warst - richtig?«
»Äh - ja.«
»Und wo warst du ansonsten, wenn du nicht in Mexiko warst?«
»Da war ich zu Hause.«
»Also in unmittelbarer Nachbarschaft des Grundstückes von Arnos Keeter, hab ich recht?«
»Ja, Sir, ungefähr.«
»Wo die Leiche von Barry Gurie gefunden wurde?«
»Einspruch«, sagt mein Anwalt.
»Euer Ehren«, sagt der Staatsanwalt, »wir wollen nachweisen, daß alle Morde begangen wurden, bevor er flüchtete.«
»Fahren Sie fort - aber kommen Sie langsam zum Punkt.«
Der Staatsanwalt wendet sich wieder zu mir. »Was ich meine, ist folgendes - du bist der engste bekannte Vertraute des Gangsters Jesus Navarro. Du wohnst äußerst nahe an den Schauplätzen von siebzehn Morden. Du bist bei allen von ihnen zugegen gewesen. Als du zum ersten Mal verhört wurdest, hast du dich aus dem Büro des Sheriffs davongeschlichen. Als du ergriffen und anschließend gegen Kaution freigelassen wurdest, hast du dich nach Mexiko abgesetzt ...« Er lehnt sich lässig und erschöpft an die Gitterstäbe und läßt sein Kinn auf die Brust kippen; nur der Blick seiner schweren Augen bleibt auf mich gerichtet. »Gib es zu«, sagt er sanft und schlüssig. »Du hast alle diese Menschen getötet.«
»Nein, hab ich nicht.«
»Ich würde sagen, du hast sie getötet und dann den Überblick über die Anzahl der Leichen verloren.«
»Nein.«
»Du hast den Überblick nicht verloren?«
»Ich hab sie nicht getötet.«
Der Staatsanwalt preßt seine Lippen zusammen und seufzt durch die Nase, so, als ob ihm kurz vor Feierabend noch jemand einen Stapel Extraarbeit vorgesetzt hat. »Nenn bitte deinen vollständigen Namen.«
»Vernon Gregory Little.«
»Und wo genau warst du in Mexiko?«
»Guerrero.«
»Kann das jemand bezeugen?«
»Ja, mein Freund Pelayo ...«
»Der Lastwagenfahrer aus dem Küstendorf?« Er schlendert zu seinem Tisch, nimmt ein offiziell wirkendes Dokument in die Hand und hält es hoch. »Die eidesstattliche Erklärung von ›Pelayo‹ Garcia Madero aus dem vom Angeklagten genannten Dorf.« Er legt es sorgfältig vor sich ab und blickt sich im Raum um, als ob er jeden persönlich auffordert, gut zuzuhören. »Mr. Garcia Madero gibt an, daß er in seinem ganzen Leben nur einen einzigen amerikanischen Jugendlichen getroffen hat - einen Tramper, den er in einer Kneipe im nördlichen Mexiko kennenlernte und in seinem Lastwagen mit in den Süden nahm. Der Name des Trampers lautet Daniel Naylor ... «
einundzwanzig
Wie ein nachträglicher Trailer laufen die Szenen meines Lebens an diesem 14. November vor meinen Augen ab - flüchtige Bilder seltsamen Daseins, wie die zwei Wochen eines Mückenlebens. Der Film endet mit der Nachricht, daß Mr. Nuckles am letzten Tag meines Prozesses als Zeuge aussagen wird, das ist in fünf Tagen. Beobachter meinen, nur er kann mich jetzt noch retten. Ich erinnere mich an das letzte Mal, daß ich ihn sah, am 20. Mai dieses Jahres.
»Wenn Sachen nicht passieren, außer man sieht, wie sie passieren«, hat Jesus gesagt, »passieren
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