Jesus von Texas
andere Leute haben ein Recht darauf, nicht verfolgt zu werden, Miss Brewster«, sagt Nuckles.
»Ms. Brewster, Sir.«
Max Lechuga setzt sein unbescholtenstes Gesicht auf. »Ach was, ist doch nur Spaß, ehrlich.«
»Dann frag doch mal Jesus, ob ihm das auch soviel Spaß macht«, sagt Nuckles.
»Pff« - Charlotte zuckt mit den Schultern. »Also, wer die Hitze nicht verträgt...«
»Darf nicht ins Kühlhaus!« zwitschert Lorna Speltz. O Mann, Lorna.
Nuckles seufzt. »Wie kommt ihr eigentlich darauf, daß die Verfassung eure Rechte über die von Mr. Navarro stellt?«
»Weil er ein Puller-Packer ist«, sagt Beau Gurie. Fragt besser nicht.
»Vielen Dank, daß du das Problem so scharfsinnig auf den Punkt bringst, Beauregard. Und was Sie angeht, Ms. Brewster, Sie werden feststellen, daß unsere ruhmreiche Verfassung Sie keineswegs ermächtigt, sich über die fundamentalen Rechte eines anderen Menschen hinwegzusetzen.«
»Wir setzen uns über keine Rechte hinweg«, sagt Charlotte. »Wir, das Volk, haben uns entschieden, ein bißchen Spaß zu haben, mit wem auch immer, das ist unser gutes Recht. Und Wer-auch-immer hat dann seinerseits das Recht, seinen Spaß mit uns zu haben. Oder uns zu ignorieren. Ansonsten - wer die Hitze nicht verträgt ...«
»Soll aus dem Weg gehen!« Falsch, Lorna, falsch!
»Ja, genau, Sir«, sagt Lechuga. »Das ist verfassungsmäßig.«
Nuckles tigert vor der Klasse hin und her. »Nirgendwo in den Statuten dieses Landes, Doktor Lechuga, werden Sie geschrieben finden: ›Wer die Hitze nicht verträgt.‹« Dick und fettig wälzt er die Wörter aus, doch damit begeht er einen taktischen Fehler, so angestachelt, wie Charlotte Brewster ist. Eine Niederlage wird sie nicht akzeptieren, o nein. Ihre Lippen formen sich zu einer Rosette, ihre Augen verengen sich und funkeln.
»Mir fällt auf, Sir, daß Sie viel Zeit darauf verwenden, Jesus Navarro zu verteidigen. Ziemlich viel Zeit. Gibt es da vielleicht etwas, das wir wissen sollten ...?«
Nuckles erstarrt. »Was soll das heißen?«
»Scheint fast so, als ob Sie nicht so oft im Netz surfen - was, Sir?« Lechuga schaut sich verschlagen in der Klasse um. »Scheint so, als ob Sie diese - Knabenseiten noch nicht gesehen haben.«
Bebend vor Wut, rast Nuckles auf Max zu, als Jesus polternd aufspringt und rausrennt, gefolgt von Lori Donner, der Klassengöttin. Nuckles wirbelt herum. »Lori! Jesus !« Er folgt ihnen in den Gang.
Hab ich Jesus' Dad schon mal erwähnt, Ol' Rosario? Der würde nie in so 'ne Situation kommen, und wollt ihr wissen, warum? Weil er noch auf der anderen Seite der Grenze aufgewachsen ist, dort gibt's nämlich die vernünftige Tradition, sofort komplett auszurasten, sobald irgendwas an einem nagt. Jesus dagegen hat sich die Weißbrotseuche eingefangen, alles in sich reinzufressen. Ich muß ihn finden.
Die anderen in der Klasse schlüpfen jetzt zwanglos in ihre Rollen für die nächste Szene, in der sie unbeteiligte Zeugen eines zufälligen Ereignisses sein werden. Besonnen werden Köpfe geschüttelt; die Gurie-Zwillinge verkneifen sich ein Kichern. Dann steht Max Lechuga auf, geht zu den Computern, die am Fenster aufgereiht sind, und aktiviert ihre Bildschirmschoner, einen nach dem anderen. Auf allen erscheint ein Bild von Jesus - er ist nackt und beugt sich über eine Art Krankenhauspritsche.
Ich geh zu Nuckles vor die Tür. Er hat die Bildschirme noch nicht gesehen. »Sir, wollen Sie, daß ich Jesus suche?«
»Nein. Bring meine Notizen ins Labor, und sieh zu, ob du eine Kerze auftreiben kannst.«
Ich nehme einen Stoß Blätter vom Lehrertisch und gehe hinaus. Schon von weitem sehe ich Jesus' Spind - er steht offen, und sein Turnbeutel ist weg. Nuckles geht zurück ins Klassenzimmer. Ich schätze, daß er die Bilder sieht, jedenfalls faucht er: »Ihr Kannibalen wagt es, mit mir über die Verfassung zu diskutieren?«
»Die Verfassung«, sagt Charlotte, »ist ein Instrument in den Händen der herrschenden Mehrheit einer bestimmten Zeit.« »Und?«
»Wir sind die Mehrheit. Und das ist unsere Zeit.«
»Knusperknabe, Knusperknabe!« singt Max Lechuga.
Auf Samtpfoten krabbeln die Tränen an Lori Donners Wangen hinab und fallen lautlos auf den Gang vor dem Labor. »Er ist mit dem Fahrrad weg«, sagt sie. »Ich weiß nicht, wohin.«
»Ich weiß es«, sage ich.
Lori fühlt wirklich mit ihm, das merkt man. Ich nehm an, sie ist unbefangen in seiner Nähe, so wie er sich entwickelt hat. Ich dagegen weiß immer noch nicht so
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