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Jesus von Texas

Jesus von Texas

Titel: Jesus von Texas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: DBC Pierre
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ihre Stimme so hysterisch umkippen, damit mir auf keinen Fall die Tragweite von allem entgeht. Ein großes Insekt schwirrt hinter die Gottesanbeterin, als ich zu Mom herantrete.
    »Die kippelt ziemlich, die Glücksbank«, sage ich, um das Eis zu brechen. »Als ob der Dreck unter ihr wegsackt.«
    »Weißt du was, halt doch einfach deinen Mund, Vernon! Es ist alles deine Schuld - diese ganze verdammte Scheiße.«
    Sie hat geflucht, Mann, mich hat sie verflucht. Scheiße. Ich betrachte ihre vertraute, gebeugte Gestalt. Ihre Haare haben sich wieder zu einem Helm formiert, und sie trägt ihre alten Frottee-Slippers mit den Schmetterlingen, deren Gummiflügel Moms weiße Katze abgerissen hat, bevor sie von Lechugas überfahren wurde. Ich kann nicht anders, ich muß sie anfassen. Ich berühre sie an der Stelle, wo ihr Rückenspeck unter den Achseln zu einem Damm zusammengeschoben wird, und spüre das klamme Gewicht ihrer Elendshaut. Sie weint und weint; man könnte denken, ihr Körper ist ein einziges Faß voller Tränen, die aus allen Ritzen sickern.
    Ich setze mich neben sie. »Ma, es tut mir leid.«
    Sie stößt ein ironisches Lachen aus; ich geh mal davon aus, daß es ironisch ist, wenn jemand gleichzeitig lacht und schluchzt. Dann schluchzt sie nur noch. Ich schaue in die Nacht hinein, die alles weich und klar und warm und feucht erscheinen läßt; durch das Licht der Verandas schneien Motten und Insekten, und von fern hört man die Musik vom Hayride.
    »Papa hat immer schon gesagt, daß aus mir nichts werden wird.«
    »Ma, sag so was nicht.«
    »Aber es stimmt, schau mich doch an. Es war schon immer so. ›So was von linkisch‹, das war es, was Papa immer gesagt hat. ›Linkisch und störrisch.‹ Die anderen waren immer alle Kapitän vom Cheerleader-Team und Homecoming-Queen und Klassensprecherin. Alle waren sie wie Betty - spritzig und lebhaft ...«
    »Doch nicht etwa Betty Pritchard?«
    »Du weißt natürlich alles ganz genau, nicht wahr, Vernon? Dann weißt du ja auch, daß Betty Klassensprecherin war, in der vierten Klasse, und immer die prickelndsten Rollen gekriegt hat in den Schulaufführungen. Und nie hat sie geflucht oder geraucht oder getrunken wie wir anderen, o nein - gescheit und strahlend wie die Sonne war sie. Bis ihr Vater angefangen hat, sie grün und blau zu schlagen. Bis aufs Blut hat er sie geprügelt. Wenn du also schon so kritisch bist, dann denk bitte daran, daß wir auch nur Menschen sind. Ursache und Wirkung, Vernon, das ist es - du hast es nur noch nicht kapiert. Sogar Leona war nett und locker, bis sich ihr erster Mann als, du weißt schon - andersrum rausstellte.«
    »Der, der gestorben ist?«
    »Nein, nicht der, der gestorben ist. Der erste, und aus reiner Rücksicht solltest du gar nicht erst fragen.«
    »Tut mir leid.«
    Sie atmet durch und reibt sich mit den Handflächen die Augen. »Doch dann hab ich. für den Schulball ein paar Kilo abgenommen. Ich hab's Dad gezeigt, dieses eine Mal. Dennis Gurie hat mich gefragt, ob ich mit ihm hingehe - Dennis Gurie, der Linebacker! Eine ganze Woche lang habe ich den Schal meines Ballkleides zum Zudecken benutzt.«
    »Na bitte - siehst du!
    »Er hat mich mit dem Lieferwagen seines Bruders abgeholt. Ich bin fast in Ohnmacht gefallen vor lauter Aufregung, und wahrscheinlich vor Hunger, aber er hat gesagt, ich soll mich entspannen und daß es so sein wird, als würde ich die Nacht bei meinen Verwandten verbringen ...« Mom fängt an, aus tiefster Kehle zu wimmern, wie ein Katze. Das ist die erste Phase eines gewaltigen Heulkrampfs, falls es jemand noch nicht wußte.
    »Was ist denn passiert?«
    »Wir sind aus der Stadt rausgefahren und haben gesungen, bis wir fast in Lockhart waren. Dann hat er gesagt, ich soll mal nach der Ladeklappe schauen. Und als ich ausgestiegen bin, ist er einfach losgefahren und hat mich dort stehenlassen. Und dann hab ich den Schweinestall neben der Straße gesehen.«
    Wut steigt in mir auf, Wut auf die beschissenen Guries und darauf, wie alles läuft in dieser beschissenen Stadt. Sie zerschneidet die Wellen der Traurigkeit und die Bilder vom jungen Jesus, der sich selber an ein verdammtes Kreuz genagelt hat, bevor jemand anderes es tun konnte. Das ist der Grund, warum diese Stadt so aufgebracht ist. Sie wurden um ihre Chance gebracht, es ihm heimzuzahlen. Aber ihre Wut ist nichts gegen die Wut, die sich in mir zusammenbraut. Wut zerschneidet viele Sachen, sie ist scharf wie ein Messer.
    Einen Moment später spüre ich Moms

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