Jetzt! - die Kunst des perfekten Timings
einen anderen zu verlagern, heißt das, es bereitet sich darauf vor, sie einzusetzen? Falls ja, ist dann sofortiges Handeln erforderlich? Um nicht zu vergessen, dass Timing von der Interpretation der Ereignisse abhängt, gibt man am besten jeder Interpretation einen eigenen Track.
Während einer Protestaktion gegen einen konservativen Kolumnisten ging die Polizei 1993 an der Universität von Pennsylvania gegen schwarze Studenten vor, um zu verhindern, dass diese sich der aktuellen Ausgabe der Studentenzeitung bemächtigten. In einem späteren Bericht über den Vorfall hieß es: Die »Beamten hätten erkennen müssen, dass der Versuch der Studenten, sämtliche Zeitungen zu beseitigen, zwar gegen die Universitätsregeln verstieß, aber ›eine Form von Protest und kein Hinweis auf kriminelles Verhalten‹ war«. 9 Hätten die Studenten sich kriminell verhalten, hätte die Polizei rechtzeitig eingegriffen. War die Aktion der Studenten jedoch ein rechtmäßiger Protest, dann hatte die Polizei vermutlich vorschnell gehandelt. Wenn die Polizei einen Timingfehler beging, so hatte er mit ihrer Interpretation der Ereignisse zu tun.
Gäbe es für diese Geschichte nur eine mögliche Interpretation, dann ließen sich die Ereignisse nacheinander auf einem einzigen Track oder einer Zeitschiene anordnen. Wenn aber verschiedene Interpretationenmöglich sind, brauchen Sie mehrere Tracks – einen für jede »Lesart« der möglichen Vorgänge. Stellen Sie sich drei Fragen: (1) Wann werde ich wissen, welcher Track oder welche Interpretation zutrifft? (2) Welche möglichen Vorgänge zu diesem Zeitpunkt könnten mein Urteil beeinflussen? (3) Angenommen, meine Interpretation ist richtig, wann sollte ich handeln?
Reaktionstracks
Wenn jemand in einer Organisation eine Änderung – zum Beispiel eine neue Unternehmenspolitik – vorschlägt oder einführt, ist mit einer Reaktion zu rechnen: vielleicht Unterstützung, vielleicht Opposition. Auf jede Aktion gibt es eine gleich starke Reaktion, wie Newton sagen würde. Es stellen sich vier Timingfragen in Bezug auf Reaktionen. Sie betreffen zeitliche Interpunktion, Form und Tempo:
Wann wird die Reaktion oder der Gegenprozess anfangen?
Wie schnell wird er sich entwickeln?
Wann wird er eine beträchtliche Größe erreichen?
Wann wird er vorbei sein?
Kurz: Wie sieht die Gesamtform der Kurve aus, die Anfang, Entwicklung und Verlauf der Reaktion darstellt?
Einen Überblick über eine mögliche Reaktion verschaffen Sie sich am besten, indem Sie ihr einen eigenen Track zuordnen. Auf diese Weise können Sie Form und Timing von Anfang an berücksichtigen. Wenn Sie Aktionen und Reaktionen auf demselben Track anordnen, werden Sie eine mögliche Reaktion tendenziell als zukünftiges Ereignis einstufen. Dadurch könnten Sie es leicht aus dem Blick verlieren und vergessen.
Zieltracks
Häufig verfolgen Menschen und Organisationen mehrere Ziele und Zwecke gleichzeitig: Gewinn, Steigerung des Ansehens, Wohlstand für die nächste Generation eines Familienunternehmens und so fort. Manchmal sind diese Ziele miteinander vereinbar, manchmal nicht. Und im Laufe derZeit können sich manche Zielsetzungen verändern. Ein Ziel kann an die Stelle eines anderen treten. Nehmen wir die Dollarauktion, die ich im vierten Kapitel (zeitliche Interpunktion) beschrieben habe. Das ursprüngliche Motiv der Gewinnmaximierung wurde schließlich bei vielen durch das Motiv ersetzt, Verluste zu vermeiden, da der Verlierer sein letztes Gebot zahlen musste. Wenn Sie nicht für verschiedene Ziele und Zwecke separate Tracks vorsehen, könnte Ihnen zu spät klar werden, dass Ihre Ziele sich ändern sollten.
Qualitative Tracks
Wichtige Ereignisse, Prozesse oder Aktivitäten, die sich schwer quantifizieren lassen, sollten ebenfalls Tracks erhalten. Der Zusammenbruch der Sowjetunion ist ein warnendes Beispiel dafür, was passiert, wenn wir nicht berücksichtigen, was sich nicht ohne weiteres messen lässt: nämlich »die Leidenschaften – die Anziehungskraft von ethnischer Loyalität und Nationalismus, die Forderungen nach freier Religionsausübung und freiem kulturellem Ausdruck und das Gefühl, dass das Regime schlicht seine moralische Legitimität verloren hatte«. 10 Weil viele Experten für die Sowjetunion diese Faktoren nicht bedachten, sondern auf Dinge vertrauten, die sie präziser darstellen konnten – also wirtschaftliche und militärische Faktoren –, entging ihnen, wann und wie schnell es zum Zusammenbruch kommen würde.
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