Jetzt Plus Minus
beobachten sie mit ernsten Mienen, als sie in die Maschine klettert. Sie gleicht sehr einem Sarg, so, wie sie sich das vorgestellt hat. Sie kann sich nicht hinsetzen; es ist zu eng. Es wird ihr unheimlich. Man hat ihr natürlich erklärt, daß die Reise subjektiv kaum Zeit erfordert, nur ein paar Sekunden. Hu-u-sch! und sie wird dort sein. Also gut. Sie schließen die Tür. Sie hört, wie das Schloß einrastet. Mr. Frieslings Stimme tönt aus dem Lautsprecher. »Wir wünschen Ihnen eine glückliche Reise, Mrs. Porter. Bleiben Sie immer ruhig, dann kann Ihnen nichts passieren.« Plötzlich leuchtet die rote Lampe über der Tür auf. Das heißt, daß die Reise begonnen hat; sie bewegt sich rückwärts durch die Zeit. Kein Gefühl der Beschleunigung, keines der Bewegung. Eins, zwei, drei. Das Licht geht aus. Das ist es. Ich bin im Jahr 1947, sagt sie sich. Bevor sie die Tür öffnet, schließt sie die Augen und geht ihre Geschichtslektionen durch. Der 2. Weltkrieg ist eben überstanden. Europa liegt in Ruinen. Es gibt 48 Bundesstaaten. Harry Truman ist Präsident. Stalin beherrscht Rußland, und Churchill, ist Churchill noch Premierminister von England? Sie weiß es nicht genau. Nun, egal. Ich bin nicht hergekommen, um über Premierminister zu reden. Sie berührt die Klinke, und die Tür der Zeitmaschine öffnet sich nach außen.
Er tritt aus der Maschine in das Jahr 2006. Im Verkaufsraum hat sich nichts verändert. Friesling, die beiden Techniker, die modernen Schreibtische, der dicke Teppich, alles wie vorher. Er bewegt sich federnd. Sein Geist ist noch bei Alices Großmutter. Der Geschmack ihrer Lippen, die leisen, wilden Schreie ihrer Erfüllung. Wer hat behauptet, früher seien alle Frauen frigid gewesen? Die sollten zurückgehen und sich einmal umsehen. Friesling lächelt ihn an. »Hoffentlich hatten Sie eine angenehme Reise, Mr. – äh –«, sagt er. Ted nickt. »Angenehm und nützlich«, sagt er. Er geht hinaus. Alice nie mehr wiederzusehen – wie herrlich! Der Wagen steht auf dem Parkplatz nicht dort, wo er sein müßte. Gewisse Randveränderungen muß man wohl einkalkulieren, nehme ich an. Er winkt einem Taxi und nennt dem Fahrer seine Anschrift. Sein Schlüssel paßt nicht in die Haustür. Betroffen drückt er auf den Besuchsmelder. Eine Frauenstimme, nicht die von Alice, fragt ihn, wer er sei. »Ist das Ted Porters Haus?« fragt er. »Nein, ist es nicht«, erwidert sie gereizt und argwöhnisch. Auf dem Türschild steht ›McKenzie‹, wie er erst jetzt bemerkt. Die Veränderungen sind also nicht so gering. Wohin gehe ich jetzt? Wenn ich hier nicht wohne, wo dann? »Warten Sie!« schreit er dem Taxi nach. Es bringt ihn zu einem Cafe in der Innenstadt, von wo aus er Ellie anruft. Ihr Gesicht, das aus dem winzigen Bildschirm blickt, wirkt seltsam erstaunt. »Hör mal, etwas ganz Seltsames ist passiert«, beginnt er, »und ich muß dich so schnell wie möglich sehen –«
»Ich glaube nicht, daß wir uns kennen«, sagt sie. »Ich bin Ted«, erklärt er. »Was für ein Ted?«
Wie sonderbar das ist, denkt Alice. So, als trete man in ein Diorama im Museum, das plötzlich zum Leben erwacht ist. Die lärmenden kleinen Automobile. Die häßliche Kleidung. Die geduckten, halb verfallenen Gebäude. Das Chaos. Der ölige, rauchige Geruch der verpesteten Luft. Schmutziger Schnee auf den Straßen. Mülltonnen überall, so, als habe noch nie jemand von der Pest gehört. Na, hier bleibe ich nicht lange. In der Handtasche hat sie das Fleischmesser, ein ganz kleines Lasergerät. Bleirohre sind ganz gut für Phantasievorstellungen, aber das ist die Wirklichkeit, und die Tat soll schnell und sauber geschehen. Kreuz und quer mit dem Laserstrahl, und Martin ist tot. An der Ecke bleibt sie stehen, um die Adresse nachzusehen. Es gibt keine Zentralauskunft, wo man alles erfahren kann, nicht in dieser primitiven Zeit; sie muß ein gedrucktes Telefonbuchverwenden. Da steht er: Martin Jamieson, 504 West 45th. Das ist nicht weit. In zehn Minuten ist sie dort. Ein dunkles Backsteinhaus, fünf oder sechs Stockwerke hoch, mit spinnenartigen Feuertreppen an der Außenseite. Selbst für diese Zeit wirkt es sehr heruntergekommen. Sie betritt es. An der Eingangstür hängt eine Liste der Mieter. Jamieson, 3 A. Es gibt keinen Lift und natürlich keinen Liftschacht. Die Treppe hinauf. Ein muffiger Flur, beleuchtet von einer einzigen nackten Glühbirne. Das ist Wohnung 3 A. Jamieson. Sie läutet.
Zehn Minuten später ruft Friesling zurück,
Weitere Kostenlose Bücher