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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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schnell hinunter.
    Dann ging er auf die Tanzfläche.
    Erst waren seine Bewegungen ein wenig unkoordiniert, aber irgendwann begannen die Biere und die Schnäpse zu wirken. Er wurde lockerer. Ausgelassener. Ruderte mit den Armen. Kreiste mit dem
Becken. Schlenkerte mit den Knien. Schleuderte die Beine. Schaute hoch in die bunten Lampen. Drehte sich und lachte. Er fand Gefallen am Tanzen, an sich selbst und am Leben im Allgemeinen.
    Und außerdem war da so eine junge Frau. Die stand einfach da, am Rande der Tanzfläche, hatte ein Glas mit buntem Inhalt in der Hand und schaute ziemlich gelangweilt drein. In
Wirklichkeit war diese junge Frau alles andere als gelangweilt, in Wirklichkeit raste ihr Herz und flatterte ihr linkes Lid vor Aufregung, weil sie sich an diesem Abend zum allerersten Mal in ihrem
Leben getraut hatte auszugehen, und dann gleich in ein Tanzlokal, und zwar nicht in irgendein Tanzlokal, sondern in das, nach der Empfehlung irgendeiner Bekannten, angeblich lauteste und dunkelste
Tanzlokal der Stadt.
    Das alles konnte mein Vater natürlich nicht wissen. Und selbst wenn er es gewusst hätte, es wäre ihm in diesem Moment egal gewesen. Scheißegal sogar. Beim ersten Anblick
dieser offensichtlich so gelangweilten jungen Frau hatte ihn nämlich etwas erwischt, im Hirn, im Herzen, im Bauch oder überall gleichzeitig, und das wühlte jetzt da drinnen herum.
Beunruhigend war das, heiß und fast ein bisschen schmerzhaft. Und wunderschön.
    Er beschloss zu handeln. Möglichst unauffällig ruderte, kreiste, schlenkerte und schleuderte er sich zu ihr hinüber und tanzte drei Lieder lang in Griffweite vor ihr auf und ab.
Als er schließlich während der ersten Takte des vierten Liedes aufgeben und die Tanzfläche verlassen wollte, geschah es: Sie lächelte. Eigentlich war es kein richtiges
Lächeln, sondern eher eine etwas schiefe Mundverzerrung. Aber es genügte. Vaters Herz lief über und er lud sie stotternd auf einen Drink ein.
    Eine Weile saßen sie sich an einem silbrig glänzenden Tischchen gegenüber, er trank ein großes Bier und wusste ansonsten nicht, was er mit seinen Händen machen sollte;
sie nippte an einem Weingläschen und zupfte dabei die ganze Zeit mit Daumen und Ringfinger der rechten Hand an einer Blusenfalte.
    Sie sagten Du zueinander. Erzählten voneinander. Fragten nach. Lächelten. Schwiegen. Beobachteten sich unauffällig. Sie mochte diesen braunen Punkt an seinem Hals, genau oberhalb
des Kehlkopfs, der bei jedem Schluck wie ein kleiner Aufzug hoch und runter fuhr; er bewunderte diese weichen Rundungen ihrer Oberarme. Wie kann ein Mensch nur solche Oberarme haben, fragte er sich
insgeheim, wie aus Porzellan sind die, nur eben weich. Sehr, sehr weich. Da hielt er es nicht mehr aus und nahm ihre Hand. Sie ließ es geschehen. Und in diesem Moment passierte etwas
Seltsames: Die gerade eben noch hämmernd laute Musik wurde leiser und leiser und noch ein bisschen leiser, und plötzlich war sie weg. Aus. Stille. Und gleichzeitig mit der Musik
verschwand auch das gesamte Drumherum. Es war, als ob sich alles in eine unbekannte Dunkelheit zurückziehen würde, die Tanzenden, die Trinkenden, die Tische, die Stühle, die Theke,
die Barfrau, die Diskokugel, der Boden, das komplette Tanzlokal, die ganze Welt versank in eine tiefe, samtige Schwärze.
    Ein einziges Licht blieb, ein letzter Lichtkegel in der ewigen Finsternis, wie ein Riss im Universum. Und in diesem Lichtkegel saßen mein Vater und diese junge Frau an ihrem silbrig
glänzenden Tischchen. Im Glas zitterte das Bier nach einem lautlosen Takt, sonst bewegte sich nichts. Die beiden hielten sich an den Händen. Er sah sie an. Sie sah ihn an. Und alles war
klar.
    Am nächsten Tag gingen sie spazieren, am übernächsten ins Kino, am dritten ins Bett. Vier Wochen später räumten sie gemeinsam die alten Möbel der Eltern auf die
Straße, und sie zog bei ihm ein.
    Als sie ihm eines Morgens am Frühstückstisch plötzlich den Eierlöffel wegnahm und seine Hand an ihren Bauch legte, direkt an diese unfassbar zarte Stelle unterhalb des
Bauchnabels, blieb er erstaunlich gefasst. Genau drei Minuten lang ließ er die Hand dort liegen. Dann stand er auf, ging in den Garten und begann mit aller Kraft am verkrüppelten
Kirschbaum zu rütteln. Kurz darauf kam er mit schweißglänzendem Gesicht in die Küche zurück und legte meiner Mutter ein paar ziemlich kleine, aber sehr dunkelrote Kirschen
in den Schoß. Sie aß sie alle, eine nach der

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