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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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anderen. Er schaute ihr dabei zu. Und acht Monate später ging ich als bläulich-violetter und ziemlich verbeulter Sieger aus der
blutigen Schlacht im Krankenhaus hervor.

DIE ROTE STRUMPFHOSE
    Eines Nachmittags schraubte meine Mutter die Shampooflasche zu, trocknete sie mit einem Taschentuch sorgfältig ab, stellte sie an ihren Platz hinter dem Haarwaschbecken,
band ihre zart geblümte Friseurschürze ab, hängte sie an einen Haken neben der Eingangstür, ging nach oben und legte sich ins Bett, um nie wieder aufzustehen.
    Irgendetwas hatte sich schon vor längerer Zeit daran gemacht, sich in ihren Körper hinein- oder aus ihm herauszufressen. Die kleinen bunten Pillen, die sie seit Monaten alle paar
Stunden einem Döschen aus der Schürzentasche entnahm, hatten die ganze Sache noch eine Weile hinauszögern können. Bis es eben nicht mehr ging.
    Jetzt lag sie unter einem hohen Deckenberg im abgedunkelten Schlafzimmer, und man konnte förmlich zusehen, wie sie jeden Tag an Gewicht verlor, wie sie immer schmaler, leichter und
zerbrechlicher wurde. Gleichzeitig mit dem Gewicht schien sie seltsamerweise auch an Licht zu verlieren. Das rosige Leuchten hinter ihrer Stirn verblasste allmählich, das Glänzen ihrer
Augen ermattete, die Konturen ihres Körpers begannen zu verschwimmen.
    Meine Mutter löste sich auf.
    Eines Abends rief sie mich zu sich. Ihre Stimme klang schwach und brüchig. Wie immer betrat ich das Zimmer vorsichtig, auf Zehenspitzen, leise, ganz leise, nirgendwo anstoßen,
nirgendwo versehentlich dagegen poltern, die Mutter nicht stören, nicht aufregen, nicht erschrecken. Ihr Kopf war kaum zu erkennen im dunklen Gebirge von Kissen und Decken. Sie nickte mir zu
und versuchte ein Lächeln. Ich setzte mich zu ihr und ließ die Beine über den Bettrand baumeln. Ich hatte eine rote Wollstrumpfhose an. Mit gelben Flecken an den Knien. Das Bett
knarrte bei jeder kleinsten Bewegung, also bemühte ich mich, möglichst still zu sitzen. Wir schwiegen. Draußen im Kirschbaum krächzte ein Vogel. Mutter hob den Kopf und sah
mich an. Ganz hinten in der Tiefe ihrer Augen schimmerte noch etwas, wie eine verlorene Taschenlampe auf dem Grund eines Teiches. Ich schaute. Mutter schaute. Das Bett knarrte. Der Vogel
krächzte. Plötzlich nahm sie ihre ganze Kraft zusammen, richtete mit einem leisen Stöhnen ihren Oberkörper auf und legte ihre Hand an meine Wange. Leicht wie ein Blatt Papier
lag die Hand da. Ich blieb kerzengerade sitzen und hielt den Atem an. Ich wollte ein Mann sein, stark und stolz, keine Schwäche zeigen, keine Angst, es wird ja alles wieder gut, natürlich
wird alles gut, ich würde für meine Mutter sorgen, sie beschützen, sie in den Arm nehmen und halten und drücken, so fest ich nur konnte.
    Aber ich war kein Mann. Ich war kaum zehn Jahre alt, meine Beine baumelten über den Bettrand, ich hatte eine rote Strumpfhose an und die Hand meiner Mutter lag auf meiner heißen
Backe.
    Und auf einmal sah ich, wie das Schimmern aus der Tiefe ihrer Augen langsam hochstieg, die Oberfläche durchbrach, sich löste und an ihren Wangen hinunterlief.
    »Komm her …«, sagte sie und drückte mich an sich. Ihre Stimme war leise und warm.
    »Komm her …«
    Es waren die letzten Worte, die ich von meiner Mutter zu hören bekam. Sie starb am nächsten Morgen.
    Schweigsam und Hand in Hand gingen Vater und ich den fast menschenleeren Weg vom Friedhof nach Hause. Wir trugen beide schwarze Anzüge, meiner war viel zu groß, der meines Vaters zu
klein und am Kragen und an den Ellbogen schon etwas abgewetzt.
    Es war einer der letzten warmen Herbsttage. Obwohl wir schwitzten, trugen wir Krawatten. Vater wischte sich immer wieder mit einem Stofftaschentuch über Gesicht und Nacken. Am Grab war er
aufrecht geblieben, hatte jedem der Trauernden ins Gesicht gesehen und die Beileidsbekundungen mit einem Händedruck und einem stummen Nicken entgegengenommen. Ich hatte neben ihm gestanden und
versucht es ihm gleichzutun. Einer nach dem anderen waren sie angetreten, Onkel, Tanten, Großtanten, Nichten, Neffen, der Cousin aus dem Norden, ein paar Stammkunden, sogar die alte Frau
Pawlik kam in ihrem Rollstuhl mühselig auf dem Kiesweg herangewackelt. Der frische Erdhügel lag mit Blumen überstreut da und duftete. Insekten schwirrten herum. Sonnenlicht blitzte
durch die Bäume. Ganz hinten tuckerte ein winziger Bagger mit einem dicken Friedhofsgärtner im grünen Overall die Friedhofsmauer entlang.
    Wir machten an einem

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