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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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kleinen Laden halt, dessen Auslagenscheiben von einer samtigen Staubschicht überzogen waren. Vater verschwand drinnen und kam gleich darauf mit einer Packung Zigaretten
und Streichhölzern wieder. Ein paar hundert Meter gingen wir weiter, bis er plötzlich stehen blieb, sich auf die Gehsteigkante setzte und sich eine Zigarette anzündete. Es war die
erste und letzte im Leben meines Vaters. Eine Filterlose. Der Rauch stieg hoch und verkräuselte sich in der warmen Sommerluft. Er begann zu husten. Zog noch einmal. Hustete wieder.
Schließlich schnippte er die Kippe in hohem Bogen über den Asphalt, knüllte die Packung zusammen und warf sie hinterher. Eine Weile geschah nichts. Dann legte er die Hände vors
Gesicht und begann zu weinen. Er weinte lautlos, mit bebenden Schultern. Ich sah, wie die Tränen in dünnen Bächen unter seinen Handflächen hervorrannen, wie sie über das
Kinn rollten und weiter den Hals hinunter, bis sie sich schließlich in einem dunklen Fleck am Hemdkragen sammelten. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich stand einfach nur da und sah zu,
wie sich mein Vater am Straßenrand in ein zittriges Häufchen verwandelte.
    Irgendwann war es vorbei. Er nahm die Hände vom Gesicht, holte sein Stofftaschentuch hervor, schnäuzte sich und sah mich an. Seine Stirn war tief gefurcht und rot von der Sonne, seine
Wangen glänzten feucht und an der linken Schläfe wand sich ein kleiner, zart pulsierender Aderwurm.
    »Gehen wir nach Hause!«, sagte er leise.
    Ich nickte, er stand auf, wir nahmen uns an den Händen und gingen.

EINE GLÄSERNE SEELE, EIN STEINERNER KOPF UND EIN PAAR FLIEGENDE JAHRE
    Mein Status in der Schule veränderte sich schlagartig. Ganz plötzlich war ich vom äußersten Rande der Gemeinschaft in den Mittelpunkt des Interesses
gerückt. Ich trug die Aura eines dunklen Geheimnisses mit mir. Ich war die Verkörperung einer unseligen Ahnung. Ich war der Junge, der seine Mutter verloren hatte.
    Man tuschelte, wenn ich um die Ecke kam. Verstummte, wenn ich vorüberlief. Wich mir aus. Tat geschäftig. Steckte den Kopf in den Spind. Schielte möglichst unauffällig
herüber. Vielleicht hatten sie Mitleid mit mir. Vielleicht eine Art von merkwürdigem Respekt. Ich wusste es nicht. Und ich wollte es auch nicht wissen. Im Grunde genommen wollte ich gar
nichts mehr wissen. Ich ging herum. Packte die Schultasche ein. Saß im Unterricht. Starrte an die Tafel. Marschierte zum Sportunterricht. Und so weiter, alles wie gehabt.
    Und doch war alles anders. Die Tage liefen dahin wie immer, aber sie gingen mich nichts mehr an. Die Zeit hatte ihre Bedeutung verloren. Die Dinge und die Menschen auch. Es war, als ob mich der
Fluss des Lebens an einer scharfen Krümmung abgeworfen hätte. Jetzt lag ich da, ausgespült und gestrandet, und sah den bunten, sprudelnden Strom teilnahmslos an mir
vorüberziehen.
    Die Ameisen am gusseisernen Tor waren verschwunden. Wobei ich mir gar nicht mehr sicher war, ob sie überhaupt jemals da gewesen waren. Nichts war mehr sicher. Wenn eine Mutter einfach so
gehen kann, einfach irgendwohin verschwinden kann, dann ist gar nichts mehr sicher.
    Es war eine gläserne Stille in mir. Doch diese Stille war trügerisch. Die kleinste Erschütterung, und es würde einen winzigen Riss geben. Schnell würde sich dieser Riss
ausbreiten und verfächern, es würde leise knacksen und knirschen, und schließlich würde sich mit einem hellen Knall die ganze Spannung lösen. Meine Seele würde
zersplittern.
    Drüben, auf der anderen Seite des Schulhofes, gab es einen hysterischen Auflauf. Ein Schüler hatte einem anderen den Mittelfinger gebrochen. Der Junge starrte fassungslos seinen Finger
an, der von der Hand abstand wie ein angeknacktes Würstchen. Daneben lag der Fingerbrecher auf dem Bauch und versteckte plärrend sein Gesicht in den verschränkten Armen. Die
umstehenden Jungs brüllten mit Schaum vor den Mäulern, die Mädchen kreischten und scharrten mit den Hufen, jemand schimpfte, einem anderen wurde schlecht, in einer gewaltigen
Staubwolke kam Sportlehrer Wolarek angedampft und so weiter. Es ging mich nichts mehr an.
    Neben mir saß Max. Seine Nasenflügel zitterten, und er schnaubte vor aufgeregter Neugierde. Es war ihm sichtlich eine Qual, sich nicht unter die Schaulustigen zu mischen,
unerträglich. Aber er blieb sitzen.
    Die letzten Tage war er nicht von meiner Seite gewichen. In den Pausen saß er neben mir, auf dem Nachhauseweg trottete er hinter mir her, an

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