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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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Rheumabeschwerden. Die Mauern dehnten sich aus, zogen sich wieder zusammen, knirschten und seufzten. Die Hermann-Conradi-Gesamtschule
hatte zu atmen begonnen.
    Aber ich drehte mich nicht um. Vom Schulgelände rannte ich auf die Straße hinaus, um die nächste Ecke, entlang einer halb verfallenen Betonmauer, entlang einer toten
Fensterreihe, wieder um die Ecke und weiter, weiter, immer weiter. Ich fegte über die Straßen, meine Füße schienen den Asphalt kaum zu berühren. Ich hörte Autos
hupen, Menschen schreien, das abgerissene Gekläffe eines Hundes, das wilde Gebimmel der Straßenbahn, das Kreischen ihrer Räder. Hinter den Waggonscheiben zogen Gesichter
vorüber wie verwackelte Sonnenflecken. Ein paar Tauben flatterten auf und zogen hoch. Darüber schlugen zwei Flugzeuge ein filigranes Kreuz in den strahlend blauen Himmel. An einer
Plakatwand lehnte regungslos ein Polizist, die Hände in den Hosentaschen, die Mütze hoch aus der Stirn geschoben. In einer Auslage stemmten sich ein paar halbnackte Schaufensterpuppen mit
steifen Armen gegeneinander.
    Ich lief weiter. Die Häuser wurden niedriger. Vor den Fenstern leuchteten Geranien, in den Vorgärten lümmelten grinsende Gartenzwerge. Hie und da ragten Kinderköpfe aus einer
Sandkiste. Eine Katze streckte sich träge, bog mit weit aufgerissenem Maul ihr Kreuz durch. Geschäfte machten dicht. Rollläden knatterten herunter. Es dämmerte. Überall
gingen die Lichter an. Fenster. Straßenlaternen. Der Mond. Kaum noch Menschen auf der Straße, hin und wieder ein Besoffener, ein einsamer Spaziergänger, das Aufglimmen einer
Zigarette in einem Hauseingang. Nacht. Dunkelheit. Ruhe. Die Stadt schien sich zurückzulehnen und auszuatmen. Nur ich rannte durch die menschenleeren Straßen. Meine Lungen hatten
längst aufgehört zu brennen. Mein Herz schlug langsam und ruhig.
    Schon hinter der nächsten Ecke ging die Sonne auf. Wie im Zeitraffer zog sie über den Himmel, tauchte wieder ab, kam wieder hoch. Ich lief weiter. Rannte durch die Tage, durch Wochen
und Monate. Es wurde kühler. Der erste Nachtfrost kam. Und am nächsten Morgen begann es zu schneien. Die Flocken verfingen sich in meinen Haaren und schmolzen auf der Stirn. Auf dem
schneeweichen Boden konnte ich meine Schritte kaum noch hören, fast lautlos lief ich durch die Straßen und schnaubte meinen weißen Atem vor mich hin.
    Im Frühling verließ ich die Stadt. Auf den Feldern und Wiesen hielten sich nur mehr ein paar verstreute Schneeflecken, dann waren auch sie weg. Stattdessen blühten die ersten
Krokusse. Der Regen war schwer und warm. Überall brach es grün hervor.
    Der erste Sommer war ungewöhnlich heiß, der zweite verregnet und kühl, der dritte angenehm, die nächsten wieder drückend heiß. Der Horizont verschwamm im
Hitzeflimmern, die Erde wurde trocken und rissig, es knackte und staubte unter meinen Füßen. Hin und wieder tauchte ein Traktor auf, wackelte vorbei, verschwand wieder. Ein paar
Bauernhöfe. Ein paar Fabriken. Dörfer. Reihenhaussiedlungen. Einkaufszentren. Hochspannungsmasten. Wege. Straßen. Autobahnen.
    In einer sternenklaren Nacht spürte ich plötzlich einen stechenden Schmerz in den Schienbeinen. Über den Knöcheln knarrten die Wachstumsfugen. Meine Kleider waren mir
längst zu klein geworden. Überall platzten die Nähte, riss der zerschlissene Stoff. Die Schuhe hingen in Fetzen an den Füßen. Ich schleuderte sie von mir, riss mir die
letzten Stofffähnchen vom Körper und lief nackt weiter. Die Hitze machte mir nichts aus, die Kälte spürte ich nicht. Meine Haare verfilzten und fielen in langen, dicken
Strähnen über meine Schultern. Unter den Achseln und zwischen den Beinen kräuselten sich erste Härchen. Alles juckte. Pustel und Pickel sprossen an meiner Stirn, verschwanden
aber innerhalb eines einzigen Herbstes wieder. Allmählich veränderte sich meine Perspektive auf die Welt, die Dinge um mich herum wurden kleiner, der Boden unter meinen Füßen
entfernte sich, Zentimeter für Zentimeter. Ich war gewachsen und ich wuchs weiter, langsam und stetig, ohne großartige Wachstumsschübe.
    Und dann, an einem späten Nachmittag im Oktober, die Luft war gläsern klar, die Sonne hing schon tief über dem hügeligen Horizont, blieb ich stehen.
    Ich stand mitten in einer weiten, abgeernteten Felder-landschaft. Ein paar vereinzelte Halme zitterten im leichten Herbstwind. Ich sah an meinem Körper hinunter. Alles war gewachsen. Nase,
Arme, Hände, Beine,

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