Jetzt wirds ernst
den Nachmittagen streunte er stundenlang vor
unserem Haus herum.
Die Schulglocke läutete. Sofort sprang Max auf.
»Wer als Erster in der Klasse ist!«, rief er heiser.
»Geht nicht. Hab mir was verrenkt oder so«, sagte ich.
»Scheiß drauf!«, sagte Max und sah mich herausfordernd an.
»Nö …«, antwortete ich.
Max schniefte. Ein dünner Rotzfaden hing ihm leicht zitternd aus der Nase. Eine Weile stand er etwas unschlüssig da. Man konnte förmlich zusehen, wie seine Euphorie im
Schulhofstaub versickerte. Dann hob er den Arm, wischte sich mit dem Pulloverärmel den Rotz vom Gesicht, drehte sich um und trottete in Richtung Schulgebäude.
Der Hof leerte sich schnell. Noch ein paar Nachzügler, ein heimlicher Raucher, ein verwirrter Erstklässler, dann war ich allein.
In einer schattigen Ecke lag ein kleiner dunkler Haufen. Ein Maulwurfhügel vielleicht. Oder die Scheiße eines besoffenen Sitzenbleibers. Hoch oben flatterten zwei braune Vögel,
zwitscherten aufgebracht, hackten plötzlich aufeinander ein, trudelten jedoch gleich darauf wieder ab und verschwanden hinter dem Schuldach. Aus den Klassenzimmern drangen leise die Stimmen
der Lehrer heraus. Es ging weiter. Alles geht immer irgendwie weiter. Ich stand auf, ging quer über den Hof und betrat das Gebäude.
Drinnen war es kühl. Ich stieg die steinernen Stufen hoch. Ging den Flur entlang. Hörte den leisen Widerhall meiner Schritte. Die letzte Tür links führte zu meiner Klasse.
Ich legte die Hand an die Klinke und hörte Frau Limmeritz, die mit ihrer freundlich fiependen Stimme ein Gedicht vortrug. Ich wollte hineingehen und den Rest der Stunde still vor mich
hindämmern. Doch etwas hinderte mich daran. Regungslos blieb ich im Flur stehen, den Kopf leicht gesenkt, die Hand immer noch an der Klinke. Irgendwo im Haus verhallten ein paar Stimmen, von
weit draußen drangen gedämpft die Verkehrsgeräusche herein, in der Klasse fiepte Frau Limmeritz, und in meinem Kopf rauschte das Blut.
Plötzlich bemerkte ich, dass ich nicht allein war. Jemand beobachtete mich. Ganz genau konnte ich den Blick spüren, wie eine federzarte Berührung im Nacken. Vorsichtig wendete ich
den Kopf. Der Flur lag unverändert da, lang, hoch und düster. Und auf einmal sah ich ihn. Da stand er, ganz hinten an der Treppe. Es war Hermann Conradi.
Ein matter Lichtstreifen hatte sich durch ein kleines Fenster im Treppenaufgang hereinverirrt und lag quer über dem steinernen Geierkopf. Er sah mich direkt an. Die Mundpartie lag im
Schatten, es war nicht zu erkennen, ob er lächelte. Doch ich nahm es an. Es konnte gar nicht anders sein. Eine ungeheure Wut stieg in mir hoch. Der Klumpen, den ich seit einiger Zeit in meiner
Brust mittrug, schwoll an, ließ mir kaum noch Platz zum Atmen.
Da nahm ich die Hand von der Klinke und ging los.
Ich lief direkt auf Conradi zu. Der Lichtstreifen auf seinem Kopf zitterte leicht. Er schien ein wenig zurückzuweichen, ein, zwei Millimeter höchstens. Aber ich konnte es
fühlen.
Und dann war ich bei ihm. Ganz nah. Jetzt konnte ich den spöttisch verzerrten Mund erkennen, ein Mündchen, winzig und schief im Schatten der Geiernase. In diesem Moment platzte der
Klumpen. Ich brüllte auf und rannte mit ausgestreckten Armen auf ihn zu.
Ich erwischte ihn voll. Mit einem ungesunden Knirschen löste sich der Kopf vom Sockel, kippte nach hinten ab und polterte die steinernen Stufen hinunter. Ich sah wie die Geiernase knackte,
wie die spitzen Backenknochen abplatzten, wie das höhnische Mündchen eingeschlagen wurde, wie ein Ohr in hohem Bogen durch die Luft sauste und wie schließlich der ganze Kopf am
Treppenabsatz in tausend Stücke zerkrachte.
In drei grandiosen Sekunden hatte sich Hermann Conradis Andenken in einen Haufen Schutt verwandelt.
Überall in den Gängen flogen die Türen auf und Lehrerköpfe erschienen. Jeder Kopf eine einzige Frage. Dahinter quollen die Trauben der Schüler heraus. Jemand lachte.
Jemand schrie. Alle lachten. Alle schrien.
Und ich begann zu rennen. Ich rannte die Treppe hinunter. Schlitterte über die abgesplitterten Steinstückchen unter meinen Schuhsohlen, sprang über die Restbrocken des Kopfes,
rannte weiter, stieß das hohe Tor auf und stürzte hinaus ins Licht.
Hinter mir brach das Chaos aus. Die Ziegel zitterten, die Wände bebten, der Dachstuhl wölbte sich, im Gebälk darunter knisterte es, das ganze Gebäude schien zu erwachen,
mühsam, ächzend, stöhnend wie unter schweren
Weitere Kostenlose Bücher