Jetzt wirds ernst
mit den Schultern. Plötzlich fing Max an zu grinsen. Ein breites, unverschämt freundliches Grinsen. Dann breitete er seine Arme
aus, ging auf mich zu und drückte mich an sich. Ich spürte seinen Herzschlag an meiner Brust und hätte heulen können.
Aber ich tat es nicht.
DER SCHLÜSSEL ZUM PARADIES
Der Tag der Premiere rückte näher. Über die Monate hatten wir uns durch das Stück gekämpft, waren unsere Wege auf den Gymnastikmatten immer und immer
wieder abgelaufen, hatten unsere Texte so oft gelesen, zerlegt, wiedergekäut, aufgesagt oder uns um die Ohren gebrüllt, bis wir nachts davon träumten. Unsere zerschlissenen und
manchmal vor Wut zerfetzten Kostüme hatte Frau Gorac in nächtlicher Heimarbeit immer wieder geflickt, gestopft oder sonst irgendwie neu zusammengeschneidert, bis sie uns auf
merkwürdige Weise anfingen zu passen. Nicht im körperlichen Sinne. Die Kostüme passten jetzt zu unseren Rollen. Besser gesagt zu unseren Rolleninterpretationen.
Zum Beispiel war der Stoff an Oscars Hose schon so durchgescheuert, dass seine Knie wie kleine weiße Gesichter hinter zwei Fenstern hervorschimmerten. Aus unerklärlichen Gründen
hatte er es sich nämlich zur Angewohnheit gemacht, sich während des Stückes mehrmals laut aufheulend auf die Knie fallen zu lassen, um dann darauf minutenlang durch die Szene zu
rutschen.
Mein Hemd hatte über die Zeit grünliche Flecken unter den Achseln bekommen, die sich nicht mehr auswaschen ließen. Das lag daran, dass ich, sobald ich die Gymnastikmatten betrat,
anfing zu schwitzen. Die Hitze in der Turnhalle machte mir zu schaffen. Die Blicke der anderen auf meinem Gesicht. Die Angst vor Texthängern. Und die Angst vor Tinka.
Wir hatten seit der Geschichte mit dem Arschbiss nicht mehr miteinander gesprochen. Kein einziges Wort. Wir wichen uns aus, grüßten uns nicht, sahen uns nicht an. Nur während
unserer Szenen gab es kein Entkommen. Wir stellten uns hin, sagten unsere Texte auf und gingen wieder ab. Für diese kurze Zeit waren wir ja nicht mehr wir selbst. Wir waren Mascha und
Medwedenko. Trotzdem rann mir der Saft aus allen Poren.
Nach jeder Probe sammelte Frau Gorac die feuchten Klamotten ein, ließ sie in einen Plastiksack verschwinden und trug sie nach Hause. Beim nächsten Mal lagen die Sachen gewaschen und
auch sonst einigermaßen wiederhergestellt in Reih und Glied nebeneinander auf dem Turnhallenboden.
Irgendwie hatte Frau Gorac es geschafft, unseren Respekt zu gewinnen. Der kleine Hocker unter ihrem Hintern hatte sich im Laufe der Zeit tatsächlich zum Regiestuhl ausgewachsen. Da
saß sie und beobachtete das Geschehen. Ihr Textheftchen war mittlerweile aus dem Leim gegangen und lag völlig zerfleddert auf ihren Knien. Sie kannte das Stück sowieso auswendig.
Manchmal sagte sie etwas. Soufflierte Sätze, korrigierte falsche Betonungen, dämmte das Pathos, schickte jemanden von da nach da. Meistens jedoch schwieg sie. Schaute einfach nur zu und
ließ uns machen. Trotz unseres Unvermögens und der an Irrsinn grenzenden Vorgänge während der Szenen strahlte sie eine stille, durch nichts und niemanden erschütterbare
Zuversicht aus.
Die Premiere fand am Tag der Jubiläumsfeier statt. Hundert Jahre Hermann-Conradi-Gesamtschule. Die Schüler strömten in den Turnsaal und verteilten sich auf die
langen Stuhlreihen, die wir morgens aufgestellt hatten. Um die hintersten Plätze gab es das größte Gerangel, niemand wollte vorne sitzen und somit als Streber, Schwuchtel oder
Theaterliebhaber gelten.
Aber alle waren gekommen. Die Vorstellung war von Direktor Priem zur Pflichtveranstaltung ausgerufen worden, und außerdem sollte es nachher eine Premierenfeier geben. In den Jackentaschen
der Jungs konnte man schon die Bierflaschen klingeln hören.
Wir hatten ein Seil gespannt und ein paar alte Leintücher als Vorhang aufgehängt. Ich stellte mich dahinter und lugte durch einen Spalt in den Zuschauerraum hinaus. Die Halle
füllte sich schnell. Die vordersten Reihen waren für die Erwachsenen reserviert. Ganz in der Mitte saß mit hoch erhobenem Kopf Direktor Priem. Und der Zufall wollte es, dass
ausgerechnet meinem Vater der Platz neben ihm zugewiesen wurde. Er hatte sich in seinen schwarzen Anzug gezwängt, derselbe Anzug, den er auch bei Mutters Beerdigung getragen hatte. Ich sah,
wie er sich mit zwei Fingern eine dünne Haarsträhne quer über den Kopf legte, sich linkisch die Krawatte zurechtzupfte, dann mit einem ein bisschen zu groß
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