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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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mittlerweile komplett zugezogen.
An der Häuserwand tanzte ein kleiner Staubwirbel entlang. Ich versuchte einen Schritt. Dann den nächsten. Langsam und wacklig, aber es ging. Irgendwie geht es ja immer.

MAN MUSS NICHT IMMER GLEICH HEULEN
    Die nächsten Tage verbrachte ich im Bett. Eine Fieberwelle nach der anderen rollte über mich hinweg. Dazwischen schlotterte ich vor Kälte. Vater brachte mir
warme Decken, heißen Tee und kalte Umschläge und schmierte mir selbst gepanschte Kräuterpasten auf Rücken, Stirn und Füße. Im Zimmer stank es nach Krankheit, Kamille
und faulem Laub.
    Es hatte zu regnen begonnen, seit Tagen goss es wie aus Kübeln. Nachts wurde der Kirschbaum vom Wind durchgeschüttelt, dass es nur so rauschte. Blätter flogen waagrecht durch die
Luft oder wurden zu einer rasend tanzenden Krone hochgewirbelt.
    Eines Nachts wurde ich von einem gewaltigen Lärm geweckt. Ein lautes Ächzen, dann ein ohrenbetäubendes Knallen und Splittern. Ein dicker Ast war im Gewittersturm abgekracht und
durchs Fenster geschossen. Dunkel, schwer und nass ragte er jetzt ins Zimmer. Eine weitere heftige Windböe drückte das restliche Glas aus dem Fensterrahmen und trug die Kälte und den
Regen bis ins Bett. Im selben Moment ging die Tür auf und Vater kam hereingestolpert. Sofort stemmte er sich gegen das Geäst. Ich kroch mit fiebrigen Gliedern aus dem Bett, um ihm zu
helfen. Schon nach wenigen Sekunden waren wir völlig durchnässt. Das Frottee unserer Pyjamas schien die ganze Gewitternässe auf einmal aufzusaugen. Das Holz ächzte laut und
unter unseren Hauschuhen knirschten die Glassplitter. Vater rief mir irgendetwas zu, aber ich verstand ihn nicht, hörte nur den Wind heulen und mein eigenes Pulshämmern hinter der Stirn.
Plötzlich gab der Ast nach und rutschte mit einem hässlichen Geräusch ins Freie. Vater stand vor dem offenen Fenster und schaute in die Dunkelheit hinaus. Seine Haare flatterten im
Wind, leicht wie zarte Federchen.
    Den Rest der Nacht verbrachte ich mit von Fieberträumen zerwühltem Hirn unten auf dem Sofa. Ich sah leuchtende Punkte durch die Dunkelheit flitzen, die immer öfter aneinander
hängen blieben, bis sie zu einem großen, giftig fluoreszierendem Ball verschmolzen, der schließlich mit einem leisen Summen und leicht zitternd in einer Zimmerecke hocken blieb.
Ich sah, wie Figuren aus den Tapetenmustern herauskrabbelten, dürre Männer und Frauen mit großen, schlaffen Geschlechtern, die sofort übereinander herfielen, sich in das
Fleisch der anderen verbissen und große Brocken herausrissen. Ich wollte die Bilder verdrängen, sie in die hintersten Ecken meines Bewusstseins scheuchen, doch ich hatte keine Macht mehr
über meine Vorstellungskraft. Die Dinge in mir und um mich herum verselbständigten sich, und ich war nur noch ein Besucher, ein entsetzter Gast in ihrer schrecklichen Welt .
    Mit den Gewittertagen verzog sich allmählich auch das Fieber. Ich konnte wieder klare Gedanken fassen, feste Nahrung zu mir nehmen, bald auch halbwegs aufrecht im Bett
sitzen und ein paar Seiten lesen. Immer noch war mir hundeelend. Im Kopf wummerte es dumpf, die Nase war zugeschwollen und wundgerotzt, die Gelenke fühlten sich an wie von innen zerstochen.
Mehrmals täglich schlurfte ich schwankend zur Toilette, nur um dann ein paar verlorene, dunkelgelbe Tropfen zu pissen.
    Immerhin ging es aufwärts. Draußen klarte es auf, die letzten Regenwolken verzogen sich, im Baum stritten sich wieder die Vögel. Die Splitter des abgebrochenen Aststumpfes ragten
wie spitze Finger in die Höhe. Ich dachte wieder an die Schule, an Frau Gorac, an Tschechow und die anderen. Vor allem dachte ich an Lotte. Meine Möwe.
    Und eines frühen Morgens wachte ich auf, schlüpfte aus dem Pyjama, sprang splitternackt aus dem Bett, lief die Treppe hinunter und in den Garten hinaus. Die Sonne war noch nicht
vollständig aufgegangen, der Himmel war wie aus Bleikristall, es roch nach Frühling. Ich breitete die Arme aus und ließ mich nach hinten fallen. Das Gras war kühl und feucht
vom frischen Tau, die Halme kitzelten zwischen den Beinen. Ein letztes Mal rumorte es leise in meinem Bauch. Dann war es vorbei.
    Die Geschichte mit Tinka hatte meinem Ruf als Sonderling mit Hang zur Geistesstörung weitere Nahrung gegeben. Mehr noch als vorher betrachteten mich die Leute entweder mit
unverhohlener Verachtung oder mit einer Art scheuer Bewunderung. Ich war der mutterlose Friseursohn, der wahrscheinlich Hermann

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