Jetzt wirds ernst
Conradi umgebracht hatte. Der freiwillig mit einem Haufen Weiber und
ein paar anderen Hirnkranken in den Theaterkurs ging und in dessen weißen Arsch sich kleine dicke Mädchen verbissen.
Man sprach über mich, aber kaum mit mir. Ich war ein Outlaw, ein Unberührbarer. Doch irgendwie war mir das auch ganz recht. So hatte ich meine Ruhe. Die wollten nichts von mir, und ich
wollte nichts von ihnen. Das einzige, was ich wollte, war Lottes helles Knie an meiner Wange.
Schrilles Klingeln. Zehnuhrpause. Die Schule atmet aus. Lärm. Geschrei. Tumult. Die Schüler springen auf, laufen, stolpern, stürzen aus den Klassenzimmern,
hinaus in die Freiheit, ans Licht. Die Lehrer sacken in sich zusammen, fassen in ihre Jackentaschen, tasten mit zittrigen Fingern nach ihren Zigarettenpackungen und schlurfen, hasten oder rennen
zum Lehrerzimmer. Ein, zwei, vielleicht sogar drei Zigaretten, bevor es wieder weitergeht, die nächste Stunde, die nächste Klasse, der nächste Stoff, der abgearbeitet, durchgekaut
und den blöden, kleinen Kalbshirnen eingebläut werden muss, weiter, weiter, immer weiter, dem ersehnten Vorruhestand entgegen.
Zurück bleiben verschobene Tische, umgekippte Stühle, verschmierte Kreideformeln an der Tafel. Und ich. Es sind Augenblicke der Ruhe. Das Schulhofgebrüll dringt nur gedämpft
herein. Eine Fliege verausgabt sich an einer Fensterscheibe. An der Wand daneben steht in den grauen Mauerlack eingraviert: Fickt Eure Eltern! Ich stehe auf, strecke mich, kicke eine
Schultasche aus dem Weg und schlendere aus dem Klassenzimmer. Im Gang ist es kühl und düster. Aus dem Spalt unter der Tür zum Lehrerzimmer quellen bläuliche Rauchfähnchen
hervor. Der Geruch von Kaffee, Schweiß und alten Hosen. Dann die Treppen hinunter. Das blendend helle Viereck der Hoftür. Die Hitze ist wie eine Wand. Flecken mit leuchtenden
Rändern tauchen auf, wabernde Amöben, die schnell größer werden, ineinander verschwimmen und das Gesichtsfeld verdecken. Ein kleiner Schwindel. Stehen bleiben. Die Augen
schließen. Zusehen, wie sich die Amöben langsam verflöckeln. Blinzeln. Das Licht. Der Hof. Die Bank. Und auf der Bank: Max.
Ich hatte ihn nicht vergessen. Ich hatte nur eine Weile nicht an ihn gedacht. Vor fast genau sieben Wochen hatte es ihn in der Geometriestunde vom Stuhl geschmissen, ein
zuckendes Bündel mit einem brodelnden Vulkangesicht. Seitdem war viel passiert. Verdammt viel.
Nun war er also wieder da, saß auf unserer Bank, als wäre er nie weggewesen. Aber irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas war anders. Ich kniff die Augen zusammen. Sie gewöhnten
sich nur schwer an die Helligkeit hier draußen. Doch dann sah ich es: Max hatte sich verändert. Und zwar vollkommen und grundlegend.
Er war schön geworden.
Sein Körperbau war immer noch derselbe, klein und gedrungen. Wenn er gewachsen sein sollte, dann höchstens ein paar Millimeter. Die Haare standen struppig und blond vom Kopf ab, die
Augen waren immer noch rund und strahlend blau, der Mund unverändert klein, die Nase kartoffelig wie eh und je. Und doch hatte sich diese Nase verändert, schien ein wenig schlanker, ein
bisschen länger, eine Spur gerader geworden zu sein. Irgendwie sah diese Nase plötzlich gut aus. Eine schöne Kartoffel, wenn es so etwas überhaupt gab.
Und auf einmal war mir alles klar: Diese Nase war nicht länger, schlanker oder gerader geworden. Diese Nase war glatt. Blank wie ein Kinderarsch. Keine Auswüchse, Krater, Eiterbeulen,
Pickel oder Mitesser, nicht das geringste Fleckchen, nicht das kleinste Pünktchen, nichts, einfach nur schöne, glatte, weiße Haut. Und nicht nur die Nase. Auch die Stirn, die
Wangen, das Kinn, das ganze Gesicht war glatt und ebenmäßig wie Marmor.
Oh Scheiße, sah Max gut aus!
Offenbar hatte irgendein paradoxer Heilungsprozess stattgefunden. Die Windpocken hatten die Akne neutralisiert, ein Entzündungsprozess den anderen überlagert, ein Feuer das andere
gelöscht. Max war als pickelzerfressener Freak in die Hölle gestolpert und nach sieben Wochen als sauber ausgeglühter Jüngling wieder daraus hervorgegangen.
Er stand auf und ging einen zögerlichen Schritt auf mich zu. Für ein paar Augenblicke standen wir einfach so da. Schließlich brach ich das Schweigen.
»Siehst scheiße aus!«, sagte ich.
Max nickte. Seine Augen glänzten.
»Es ist ein Wunder, oder?«, sagte er leise. Da war sie wieder, seine Stimme. Eigentümlich tief und rau.
»Weiß nicht«, murmelte ich und zuckte
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