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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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richtig Gas. Ingesamt spielten wir ungefähr doppelt so schnell wie während der Proben. Wir rasten ungebremst durch das Stück. Frau Gorac’ hilflose
Versuche, von ihrer Packpapiernische aus Einfluss auf das Geschehen zu nehmen, blieben ungehört. Der soufflierte Text sowieso. Wer nicht weiter wusste, begann zu heulen und zu schreien oder
ging einfach ab. Die anderen schmissen sich mit umso mehr Elan ins Geschehen.
    Schließlich näherte sich das Stück dem Ende, der Schuss fiel. Ein paar Minuten lang mühte sich Oscar hinter der Bühne ab, um die Schreckschusspistole wieder in Gang zu
bringen, die irgendein Idiot namens Friedrich Usterlitz mit Kaugummi verklebt hatte. Währenddessen hielten wir das Stück mit interessanten Improvisationen am Laufen. Doch dann knallte es.
Alle taten erschrocken und entsetzt. Der pickelige Kurt ging nach hinten, kam jedoch nur zwei Sekunden später wieder und verkündete:
    »Die Sache ist die: Konstantin Gawrilowitsch hat sich erschossen …«
    Das Stück war aus. Frau Gorac kroch mit knacksenden Knien aus ihrer Nische, machte die Scheinwerfer aus und zog den Vorhang zu.
    Es war still in der Turnhalle. In der plötzlichen Dunkelheit konnte ich kaum meine eigene Hand erkennen. Ich hörte nur den abgehetzten Atem der anderen und tastete mich an ihren
schweißnassen Körpern vorbei in Richtung Lotte. Ich erkannte sie am Geruch. Sogar ihr Schweiß duftete. Ich fasste sie an der Hand. Sie war glitschig und heiß und pochte in
meinen Fingern. Immer noch war es still. Jemand räusperte sich. Jemand kicherte. Endlich klatschte jemand in die Hände. Einmal. Zweimal. Wahrscheinlich einer der Lehrer. Vielleicht Priem.
Ein anderer setzte ein. Noch einer. Und auf einmal ging es los. Ein helles Rauschen in der Halle.
    Die Leute applaudierten.
    Das Licht ging an, Frau Gorac zog den Vorhang auf, und der Applaus traf mich wie eine warme Welle. Er war fast körperlich zu spüren. Ich blinzelte ins Publikum. Sah die Gesichter als
helle Flecken herumtanzen. Direktor Priems rosiger Schädel. Daneben mein Vater. Die Lehrer. Die Mädchen. Jemand schrie Bravo. Gummibänder, Papierknäuel und Bleistifte flogen.
Sogar einen Turnschuh sah ich in Richtung Bühne zischen. In der zweiten Reihe saß Max. Er sah mit leuchtendem Kopf zu uns hoch und klatschte wie ein Verrückter. Wir verbeugten uns.
Immer noch lag Lottes pochende Hand in meiner. Ich schloss die Augen, hob ab und segelte auf der Welle davon.
    Nachdem der Vorhang zugegangen war, standen wir etwas verlegen da und sahen uns erstaunt an. Etwas Ungeheuerliches war passiert. Eine Art Traum war Wirklichkeit geworden. Aber es war ein Traum,
den wir nie gewagt hatten zu träumen, von dem wir bislang keine Ahnung gehabt hatten, dass er überhaupt in uns existierte.
    Ich verzog mich auf die Toilette. Eine Weile blieb ich in der angenehmen Scheißhausstille sitzen. In den Wänden gluckerte es leise. Eine seltsame Leere machte sich in mir breit. Ich
stand auf und wusch mir die Hände. Der Typ im Spiegel sah mir ähnlich. Und doch war er mir irgendwie fremd. In meiner Tasche klickerte leise das Kettchen.
    Die Feier fand gleich in der Turnhalle statt. Neben der Bühne hatte man in Windeseile eine lange Tischreihe mit Fressereien aufgebaut. Würste, Buletten,
Schweinehaxen, Salat, Kuchen und so weiter. Dazu gab es Cola und Säfte für die Schüler und – streng bewacht von Sportlehrer Wolarek – Bier und die harten Sachen
für Lehrer und Eltern. Ich mischte mich unter die Leute. Die Reaktionen waren unterschiedlich. Die Schauspielereltern fanden alles wunderbar, insbesondere ihr eigenes Kind, das die Kollegen
mit seiner Bühnenpräsenz praktisch an die Wand geklatscht und zu dümmlichen Komparsen degradiert hatte. Unbeteiligtere Zuschauer klopften uns auf die Schultern und fanden, dass ja
alles gar nicht so schlimm war. Manche wollten sogar das Stück erkannt haben. Andere wiederum lobten den Willen zur Abstraktion. Die meisten aber sagten gar nichts und schlugen sich stumm den
Bauch voll.
    Vater kam auf mich zu. Er lächelte und gab mir wortlos die Hand. Eine Weile hielt er sie und sah mich gerührt an. Darauf steckte er mir unauffällig einen zerknitterten Geldschein
zu und ging nach Hause.
    Direktor Priem hielt eine Rede. Es ging um die Schule, um das Andenken Hermann Conradis, um den Geist Tschechows, um den lieben Gott und so weiter. Ein paar der jüngeren, karrieregeilen
Lehrer hörten wirklich zu.
    Der kleine Oscar und Heiner Heinz

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