Jetzt wirds ernst
wilder Sturm in meinem Bauch herum.
Oh, Scheiße, war ich verknallt!
In meiner Hosentasche klickerte es leise. Es war das Perlenkettchen, die ich mir vor ein paar Tagen bei dem pakistanischen Laden in der Nähe des städtischen Busbahnhofs ausgekuckt
hatte. Über dem Eingang hingen bunt blinkende Plastiklichterketten. Aus einem alten Kassettenrekorder dudelte eine fremdartige, ohrenbetäubend laute Musik. Der Pakistani ließ das
schimmernde Kettchen auf den Tresen gleiten und erzählte irgendetwas von todbringenden Tauchgängen, geheimnisvollen Austernbänken und dem silbrigen Mond über der Tiefsee. Ich
kaufte die Kette. Das Taschengeld für einen ganzen Monat und ein Batzen aus Vaters Trinkgeldkasse im Salon mussten dran glauben. Doch ich bereute nichts. Diese Kette hatte ich für Lotte
gekauft. Sie war der leise klickernde Schlüssel zu ihrem Herzen. Die Eintrittskarte zum Paradies.
Aber noch nicht jetzt. Erst nach der Premiere wollte ich ihr die Kette geben, ganz ruhig, ganz gelöst. Ich würde an sie herantreten, das aufgefädelte Tiefseegeheimnis in der
Hosentasche, ein stolzer und zugleich bescheidener junger Mann. Ich würde sie bitten, ihre Hand in meine zu legen, einen Moment lang würde ich sie halten, einfach so, ein stiller Moment,
danach würde ich das Kettchen hervorfischen und es in diese kleine helle Hand gleiten lassen. Natürlich würde Lotte ein paar Augenblicke brauchen, würde das Wunder in ihren
Fingern betrachten, würde sich selbst gespiegelt sehen in den glänzenden Perlen. Dann würde sie ihren Blick heben und gerührt auf mich richten. Und so weiter.
Im Turnsaal wurde es plötzlich still. Der Schulwart schlurfte zum Schaltkasten, betätigte nacheinander alle zwanzig Schalter und das Licht ging aus. In ihrer Nische drückte Frau
Gorac den Knopf der kleinen Stereoanlage. Eine idiotische Musik ging los, pathetisch und blechern, aber angeblich russisch. Die Musik erhob sich zum Lärm, wurde darauf plötzlich leiser
und klang aus. Dann gingen die Leintücher auf und die Scheinwerfer an.
Ich sah wie neben mir Tinkas Brust bebte. Wir schauten uns an, atmeten tief durch und betraten die Gymnastikmatten.
»Warum gehen sie eigentlich immer in Schwarz?«, sagte ich.
»Aus Trauer um mein Leben«, sagte Tinka. »Ich bin unglücklich«
EIN HELLES RAUSCHEN
Und auf einmal geschah etwas Merkwürdiges: Am Horizont meiner Blödheit stieg die Sonne auf und erhellte die Welt mit einem strahlenden Licht von Einsicht und
Inspiration. Es war wie das Erwachen nach einem langen, dumpfen, narkoseartigen Schlaf.
Zum ersten Mal verstand ich die Dinge, die wir da besprachen. Zum ersten Mal kapierte ich den Sinn, der sich so lange hinter den Worten verborgen hatte. Plötzlich waren die Sätze mehr
als hohles Geblöke. Sie bedeuteten etwas. Und sie erzählten etwas. Über die Leute, die sie sagten. Und über die anderen, die zuhörten. Sie erzählten etwas über
die Figuren, über Tschechows gebeutelte Seelen, die auf diesem russischen Gutshof umeinander herumschlichen, übereinander herfielen oder miteinander ihr Leben verhandelten. Und ich war
einer von ihnen. Ich war Medwedenko, der Lehrer. In diesem Moment wurde mir klar: Das hier war kein Spiel mehr.
Das hier war Theater.
Ich weiß nicht, ob dieses Licht auch den Geist der anderen erhellt hatte. Vielleicht war es einfach nur das Adrenalin, das uns mit dem Aufziehen des Vorhangs durch alle Poren schoss.
Jedenfalls spielten wir wie die Verrückten. Wir litten und kämpften mit unseren Rollen. Wüteten. Weinten, heulten und brüllten. Wir ließen uns alle paar Sekunden fallen,
wälzten uns auf den Gymnastikmatten, erklommen die Sprossenwand, fuchtelten mit den Armen, ließen uns wieder fallen. Oscar rutschte praktisch in jeder Szene händeringend auf seinen
aufgeschürften Knien umher. Herta zertrampelte in einem fast epileptischen Anfall ihren Hut zu einem unförmigen Häufchen. Selbst Slavina ging so sehr in ihrer Rolle auf, dass sie
immer öfter in ihre Muttersprache verfiel, bis sie schließlich ihren kompletten Text in einem merkwürdigen, tiefen und guttural verhackten Singsang vortrug. Wir verstanden sie
trotzdem.
Und natürlich Lotte. Sie war Nina. Die Möwe. Sie gurrte, hauchte, tirilierte die Worte und den Raum zwischen diesen Worten. Sie schwebte über dem Mattenboden, über unseren
Köpfen, über dem ganzen Stück. Ein ätherisches Wesen, zu schön, zu leicht und zu zart für die fette russische Erde.
Wir anderen gaben
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