Jetzt wirds ernst
geratenen Schritt an
den Direktor herantrat und ihm lächelnd die Hand entgegenhielt.
Vaters Hände waren klein und zart, seine Fingernägel hatten immer einen rosigen Schimmer. Er schrubbte sie täglich mit einer kleinen Bürste, wenn nötig mehrmals am
Tag.
»Die Hände sind das Kapital des Friseurs!«, pflegte er zu sagen. »Scheren kann man schleifen. Hände nicht!«
Direktor Priem nahm Vaters Hand nicht. Er stand nicht einmal auf. Er nickte kurz, drehte sich weg und tat, als ob er in der Hallenecke irgendetwas Interessantes entdeckt hätte. Vater zog
seine Hand zurück, legte sie mit der anderen auf den Rücken und verschränkte die Finger ineinander. Ganz genau sah ich, wie seine Finger verlegen miteinander spielten.
Vater hatte nie viel vom Theater gehalten. Er verstand nichts davon. Er wollte nichts davon verstehen. Er mochte es nicht. Zu seiner Schulzeit waren die seltenen Theaterabende eine Folter,
schlimmer noch als Zirkeltraining oder Matheprüfungen. In seinem Verständnis war das Theater einerseits ein Ort der ausufernden Hysterie und eitlen Selbstdarstellung und andererseits das
Land der tödlichen Langeweile. Eine lebensfeindliche Wüste, die es schaffte, den Zuschauern binnen zwei Stunden auch noch das letzte Tröpfchen Lebenssaft zu entziehen.
Das einzige, was ihn für kurze Zeit im Theater zu fesseln vermochte, waren die Perücken der Darsteller. Gewöhnlich brauchte er nur ein paar Minuten, um sie für sich im
Stillen zu studieren und als entweder einigermaßen gelungen oder völlig missraten abzubuchen. Bei Shakespeare, Schiller und anderen alten Herren konnte es vielleicht sogar den ganzen
ersten Akt dauern, bis er alle Frisuren durchhatte. Danach aber: tödliche Langeweile.
Doch heute war er gekommen. Er hatte die Mottenlöcher an den Ärmeln seines Anzugs gestopft, hatte sich ein bisschen Gel in die Haare geschmiert, sie korrekt nach hinten frisiert und
sich auf den Weg zur Schule gemacht. Und jetzt stand er da, die Hände auf dem Rücken verschränkt, ein wenig schief und mit leicht gesenktem Kopf. Immer noch lächelte er. Aber
jetzt war es ein trauriges Lächeln. Und dann war auch das weg.
Durch den Vorhangspalt sah ich, wie er sich setzte, die Bundfalten seiner Hose umständlich zurechtzupfte, sein Hände in den Schoß legte und auf den Boden hinunterblickte, genau
auf die Stelle, wo sich eine rote und eine gelbe Spielfeldlinie trafen. So blieb er sitzen und rührte sich nicht mehr.
Plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schulter. Frau Gorac stand hinter mir.
»Es geht los!«, flüsterte sie mir ins Ohr.
Wir gingen nach hinten in die Garderobe, wo sich alle schon vor der Spindwand versammelt hatten. Da standen wir nun, in unseren Kostümen, mit unseren Taschen, Hüten, Hauben, Blumen,
Gehstöcken und den ganzen anderen Requisiten. Alle waren käseweiß. Heiner Heinz saß gekrümmt und zitternd wie ein todkranker Mann auf der Garderobenbank, Slavina stand
leicht schwankend da und stierte auf das Spindblech vor ihr, Friedhelm Usterlitz’ Knie schlotterten, dass die Hose nur so flatterte, und von Pauls zart bibbernder Unterlippe tropfte der Saft.
Wir waren am Ende bevor es überhaupt angefangen hatte.
Frau Gorac hielt eine kleine Rede. Die Proben waren schön gewesen. Alles gut gelaufen. Sehr gut sogar. Jetzt kann eigentlich gar nichts mehr schief gehen. Keine Angst. Nicht das Atmen
vergessen. Nicht den Text vergessen. Und wenn doch: In der kleinen Nische hinter dem Packpapierbühnenhintergrund wird sie sitzen. Ein Blick von uns, und der Text würde sofort eingesagt.
Die Abläufe sind klar, die Kostüme passen, alles wunderbar. Anton Pawlowitsch Tschechow hätte seine Freude gehabt!
Wir spuckten uns alle dreimal über die linke Schulter. Dabei fielen wir uns in die Arme, als ginge es auf eine Reise ohne Wiederkehr. Und in gewissem Sinne ging es das ja auch.
Ich drückte Lotte an mich. Sie duftete wie eine Blume. Ihre Hand lag an meiner Hüfte. Aber ihr Blick war in eine weite Ferne gerichtet. Ihr Gesicht schien von innen heraus zu
glühen. Sie war die Möwe.
»Toi, toi, toi!«, hauchte sie knapp an meinem Ohr vorbei. Kaum zu hören. Kaum zu verstehen. Aber etwas von diesem Windhauch war doch in meine Gehörgänge gedrungen und
wehte nun durch meinen Kopf, strich durch die Gehirnwindungen, säuselte hinter den Augen vorbei, verwirbelte sich in den Nebenhöhlen, wurde heftiger, fegte durch den Hals, durchbrauste
den Brustkorb und tobte schließlich als kleiner
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