Jetzt wirds ernst
waren umringt von hysterisch kichernden Mädchen. Oscar fanden sie süß, Heiner bewunderten sie wegen seiner animalischen Ausstrahlung.
Ich sah mich nach Lotte um. Aus den Lautsprechern unter der Decke drang blecherne Musik. Zwei dicke Mädchen lagen sich in den Armen und tanzten dazu. Am Buffet kämpften die Leute mit
hassverzerrten Gesichtern um die letzten Schweinskrusten. Ein Vater brüllte einem anderen Vater ins Gesicht. Am Ausschank versuchte Wolarek seine Getränke gegen den Ansturm zu
verteidigen. Die ersten abgefüllten Oberstufenschüler lagen auf den Gymnastikmatten und stierten zur Decke hoch. Auf einer Turnbank saßen aufgereiht wie Vögelchen ein paar
gähnende Grundschüler. Ein paar Meter weiter hockten Herta und Tinka in enger Umarmung auf dem Boden und heulten.
Lotte war verschwunden.
Ich ging nach hinten in die Garderobe. Auf der niedrigen Bank, zwischen ein paar vergessenen Turnbeuteln, saß völlig regungslos Frau Gorac.
»Haben Sie Lotte gesehen?«, fragte ich. Sie schüttelte nur den Kopf. Die Wimperntusche unter ihren Augen war verschmiert. Ihre Arme hingen schlaff herunter.
»Ist doch alles gut gelaufen!«, sagte ich.
»Meinst du?«, fragte sie leise.
»Klar!«
Frau Gorac sah mich an. Über ihr Gesicht huschten ein paar Flecken. Kleine, rosige Wolken. Ich konnte ihren Atem hören. Ein ganz leises Schnaufen.
»Ich hätte gerne Theater gemacht«, sagte sie. »Richtiges Theater, verstehst du?«
Ich nickte schüchtern.
»Ich muss jetzt weiter«, sagte ich. »Sie haben Lotte sicher nicht gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf und ließ ihn dann langsam sinken.
Ich durchstreifte alle Garderoben, probierte es in der Sportgerätekammer, lief durch den schmalen Flur hinüber ins Schulgebäude, schaute in die Toiletten, ins
Putzkämmerchen, in jedes einzelne Klassenzimmer. Nichts.
Das Treppenhaus lag in der Dunkelheit wie ein Höhleneingang. Die Tür zum Schulhof stand offen. Ich lief ins Freie und atmete tief ein. Es roch nach Sommer, feucht, würzig und
voll.
Und plötzlich sah ich sie. Lotte und Max.
Sie saßen eng umschlungen auf der Bank und küssten sich. Lottes Pferdeschwanz wackelte, während ihre Finger durch Max’ blonden Haarschopf fuhren. Ich hörte sein
unterdrücktes Schniefen. Seine Hand lag auf ihrem Oberschenkel und wanderte daran hinunter, bald würde sie den kleinen Halbmond verdunkeln.
In diesem Moment riss etwas in mir. Es begann in der Herzgegend und breitete sich aus wie ein Haarriss in einer Windschutzscheibe. Ich konnte genau fühlen, wie sich mein Körper in
immer kleinere Teile zerlegte, jeden Moment würde ich in einer gläsernen Staubwolke verpuffen. Meine Eingeweide knirschten schon.
Vielleicht hatten die beiden dieses Knirschen gehört. Vielleicht hatten sie aber einfach nur meine Anwesenheit gespürt. Jedenfalls drehten sich beide gleichzeitig zu mir. Ohne
voneinander abzulassen. Wange an Wange.
Eigentlich war es ein schönes Bild: Die leuchtenden Gesichter meiner beiden liebsten Menschen ganz nah beieinander. Doch es brachte mich fast um. Ich spürte, wie das Kettchen in meiner
Hosentasche immer schwerer wurde. Wie sich die Perlen in Pflastersteine verwandelten.
»He, Alter!«, sagte Max mit einem glücklich-dämlichen Gesichtsausdruck. Lotte sah mich offen und freundlich an. Ihre Wange bildete an der Stelle, wo sie sich an Max’
Gesicht schmiegte, eine weiche Falte.
»Hallo!«, stammelte ich. »Schön hier draußen, was?«
»Ja!«, sagte Max.
»Die frische Luft und so weiter.«
»Genau.«
Lotte räkelte sich an seiner Seite wie eine satte Katze. Ich hatte nichts mehr verloren auf diesem Schulhof. Auf dieser Welt.
»Ich geh dann mal wieder!«, sagte ich.
»Okay. Machs gut, Alter!«, erwiderte Max.
Ich drehte mich um und ging in das kühle Gebäude zurück. Aus den Augenwinkeln konnte ich gerade noch erkennen, wie Lotte die Augen schloss und ihre Stirn an Max’ Brust
lehnte.
DIE BLAUE STUNDE
In der Turnhalle war immer noch einiges los. Ich steuerte direkt auf Wolareks Ausschank zu. Viel gab es nicht mehr. Die beiden großen Bierfässer waren geleert, vom
Wein waren nur noch ein paar lauwarme Tropfen übrig, und die harten Getränke hatten sowieso reißenden Absatz gefunden. Nur noch eine einzige volle Flasche stand da und glänzte
in einem giftigen Blau. Ein Likör, wahrscheinlich so süß und klebrig wie die Träume seiner ältlichen Spenderin. Ich griff zu und rannte los.
Nach einem kurzen Moment der Überraschung sprang
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