Jetzt wirds ernst
mir Wolarek hinterher. Es war ein gewaltiger Satz. Drei, vier Meter, einfach so aus dem Stand. Man konnte seine Sehnen förmlich
schnalzen hören. Und wäre er nicht direkt auf dem schmächtigen Rücken von Milchbübchen Oscar gelandet der genau in diesem Moment zufällig seine Sprungbahn kreuzte,
hätte er mich wohl erwischt. So aber hörte ich Oscars weinerliches Wehgeschrei, durchmischt von Wolareks wütendem Gebrüll noch leise hinter mir verklingen, als ich schon
längst aus der Turnhalle ins Freie gestürzt war.
Ich rannte um ein paar Ecken, bis ich einen gehörigen Sicherheitsabstand erreicht hatte. Dann drosselte ich mein Tempo und lief einfach ziellos weiter. Ich wollte nur weg von der Schule.
Weg von Lotte und Max. Weg von allem.
In der blauen Flasche gluckerte es leise. Ich schraubte den Verschluss ab und nahm einen tiefen Schluck. Es schmeckte klebrig wie ein abgelutschtes Bonbon. Zugleich zuckersüß und
bitter wie Gift. Eine widerliche, heiße Welle schwappte durch meinen Körper. Irgendwie schaffte ich es, die Brühe in mir zu behalten. Der zweite Schluck schmeckte etwas besser. Das
Zeug verklebte den Rachen und kroch zäh wie dickes Öl die Kehle hinunter, doch der bittere Geschmack war weg. Ich nahm den nächsten Schluck. In meinem Magen knarrte es wie morsches
Holz. Aber es ging. Ich würde es schaffen, dachte ich mit einer völlig unerwarteten Entschlossenheit und hielt die Flasche gegen das Licht einer Straßenlaterne. Das Blau schwappte
und glitzerte wie die Südsee bei Nacht.
Mit dem nächsten Schluck kam die Wut. Unangemeldet und heftig. Vor einer Plakatwand mit einem blöde grinsenden Zahnpastamädchen blieb ich stehen. Ich bog meinen Oberkörper so
weit wie möglich zurück, schnellte dann nach vorne und rammte meinen Kopf gegen ihr Kinn. Sofort taumelte ich nach hinten weg und ein paar Meter über die Fahrbahn. Die Stirnschmerzen
spülte ich schnell mit einem weiteren Mundvoll weg und machte mich wieder auf den Weg. Es war nichts los auf den Straßen. In den Stadtrandvierteln ist nie viel los. Doch heute kam mir
alles noch trostloser vor als sonst.
Die Flasche war ungefähr halbleer, als ich Lotte zum ersten Mal sah. Sie saß hinter einem Fenster im zweiten Stock und sah zu mir hinunter. Ihr Gesicht war merkwürdig fleckig und
blass, fast weiß. Ich winkte zu ihr hoch, rief ihr irgendetwas zu. Keine Reaktion. Sie saß einfach nur da und rührte sich nicht. Plötzlich tauchte jemand hinter ihr auf. Es
war Max. Aber er hatte ein altes Gesicht. Uralt und faltendurchfurcht. Ich sah, wie er Lotte von hinten umarmte, besser gesagt, wie er seine Hände um ihren makellosen, hellblau schimmernden
Porzellanhals legte. Und auf einmal geschah etwas Fürchterliches: Er riss ihr den Kopf ab, schnupperte daran, zupfte ein paar Blütenblätter aus ihrem Gesicht und trug ihn nach hinten
weg.
Zur Beruhigung trank ich stoßweise ein paar kleinere Schlucke. Als sich danach im Fenster dort oben nichts mehr tat, lief ich weiter. Ab jetzt tauchten die beiden immer wieder auf. Ich
registrierte ihre Köpfe hinter der Windschutzscheibe eines vorbeifahrenden Kleinwagens, entdeckte ihre Profile im dreckverschmierten Putz einer Häuserwand oder erkannte ihre ineinander
verkeilten Körper hinter dem Wasserschleier eines leise zischelnden Rasensprengers.
Mit den nächsten Schlucken begann sich die Welt zu verändern. Die Farbe des Himmels verwandelte sich allmählich vom stumpfen Nachtschwarz in ein strahlendes Likörblau.
Vor mir machte die Straße plötzlich einen Buckel, fiel gleich darauf steil ab und führte immer tiefer in einen unergründlichen Abgrund. Rechts und links verbogen sich die
Laternen, beugten sich zu mir herunter und grinsten mir mit ihren idiotischen Lichtköpfen ins Gesicht. Die Straße wand sich jetzt wie ein Geschenkband. Ich kam ins Trudeln. Ins haltlose
Schleudern. Ich stürzte, stand wieder auf, fiel wieder hin, kam wieder hoch, torkelte weiter.
Der letzte Schluck war der widerlichste. Doch ich hatte es geschafft. Schleuderte die Flasche von mir. Hörte, wie sie in unendlich weiter Ferne zersplitterte.
Plötzlich musste ich an Vater denken. Ich sah ihn vor mir sitzen, mit gesenktem Blick, und sich umständlich die Bundfalten zurechtzupfen. Zum ersten Mal in meinem Leben bemerkte ich,
wie spitz und dünn Vaters Knie waren. Wie zerbrechlich. Eine unsagbare Traurigkeit stieg in mir hoch. Mir schossen Tränen in die Augen. Aber gleich im nächsten Moment musste ich
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