Jetzt wirds ernst
Bibbern war verschwunden, das Schlottern war nie da gewesen. Meine Bewegungen waren rund und weich, meine Aussprache klar und
deutlich. Es war, als ob sich in meinem Kopf eine Luke geöffnet hätte. Jetzt fegte ein frischer Wind durch meinen Schädel und den ganzen Körper, und ich brauchte mich einfach
nur fallen und durch das Stück tragen zu lassen, Platons eingefärbte Leintuchtoga als weites, pralles Segel aufgespannt.
ES KNISTERT UNTERM HEMD UND BRENNT IN DER HOSE
Die Premiere konnte man gut als Erfolg bezeichnen, der Applaus war freundlich und von einigen halblauten Bravo-Rufen durchsetzt. Der meistens schon am frühen Nachmittag
abgefüllte Gemeindearzt Dr. Krössinger verlangte sogar laut brüllend nach einer Zugabe, wurde aber schnell von seiner resoluten Gattin mit einer Art Würgegriff wieder zur
Vernunft gebracht. Achtmal mussten wir zum Schlussapplaus auf die Bühne zurückkommen. Dann war es vorbei.
Die Reaktionen auf der Premierenfeier im Foyer waren unterschiedlich. Der Bürgermeister lobte in einer kurzen Ansprache den Wagemut der Künstler, Philosophie mit
christlich-katholischer Metaphorik nicht nur in Verbindung zu setzen, sondern, meine Damen und Herren, auch in einer Art von dialogischem Prinzip quasi miteinander in Austausch und eine sich
gegenseitig, äh, befruchtende Dialektik treten zu lassen, was ja (man beachte!) gerade in Zeiten wie diesen, eine alle Disziplinen und Muster und Barrieren überbrückende Einheit,
respektive, lassen Sie mich sagen, eigentlich einer Vielheit gleich, äh, komme und, meine Damen und Herren, eben gerade deshalb zum Nachdenken anregen könne, nein, müsse, denn
immerhin sei ja die Bürgerschaft dieser unserer wunderschönen kleinen Stadt auch einer gewissen Verantwortung (man denke nur an die Zukunft unserer Kinder!) unterworfen, und Wittgenstein
und, äh, diese anderen Leute seien ja schließlich keine (Sie verzeihen!) Idioten, und deshalb, meine Damen und Herren, könne man die Wichtigkeit des Theaters im Allgemeinen (und
dieser kleinen sympathischen Bühne im Besonderen!) nur immer und immer wieder betonen und sich für diesen gelungenen, äh, Abend bedanken, und damit ist jetzt das Buffet
eröffnet!
Es gab kalte und warme Platte. Wie immer hatte sich die Fleischerei Winscheidt nicht lumpen lassen und gleich nach dem letzten Vorhang ein ziemlich deftiges Buffet auffahren lassen.
Schließlich stehe man ja in einer gewissen gesellschaftlichen Verantwortung und wolle, so der Fleischermeister persönlich, den brustschwachen Geist der Kultur mit dem nötigen
Fleisch unterlegen, und im Übrigen sei ein Tag ohne eine echte Winscheidt-Wurst sowieso ein verlorener Tag.
Die Leute stürzten sich wie Hyänen auf die Platten. Ein wildes Gezerre, Gerangel und Gerempel. Jetzt endlich ging es ums Ganze. Neben den echten Winscheidt-Würsten gab es
Schweinernes in allen möglichen Facetten, dazu ein bisschen was vom Rind und für die Gesundheitsapostel ein paar Dutzend Hühnerbrüste.
Während des Essens wurde über das Stück geredet. Insgesamt gab es viel Zustimmung. Der Prokurist der städtischen Gärtnerei versuchte mit fetttriefendem Kinn und laut
schmatzend etwas Unverständliches über die gelungene Auseinandersetzung mit einer doch recht schwierigen Materie zu erzählen, wurde aber von seiner Lebensgefährtin mit feinem
Lächeln dazu angehalten, wenigstens einmal im Jahr das blöde Maul zu halten.
Ein kleiner Glatzkopf interessierte sich vor allem für die Kostüme, die seiner Ansicht nach, zwar offensichtlich nicht »historisch« waren, aber doch zumindest als Zitat ins
»Reich des Vergänglichen« verwiesen. Er schien allerdings ein wenig enttäuscht, als ihm Irina mitteilte, dass sie die Leintücher nur deswegen zusammengeschneidert habe,
weil sie angenehm zu tragen seien und man darin obendrein »irgendwie philosophisch« daherkomme.
Manche fanden Wittgenstein sympathisch, andere wiederum favorisierten Kant, ausnahmslos alle fanden die Stimmen vom Band sehr beeindruckend.
Auch mein Debüt kam recht gut an. Vor allem die älteren Damen schielten immer wieder zu mir herüber und prosteten mir mit ihren Likörgläsern bedeutungsvoll zu. Die
Herren klopften mir anerkennend auf die Schulter und erzählten allerhand gut gemeinten Blödsinn über künstlerische Begabung und höhere Berufung.
Vater, Max und Lotte kamen. Vaters Augen waren feucht vor Rührung. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, ließ es dann aber bleiben und umarmte mich
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