Jetzt wirds ernst
lange und stumm. Lottes
Gesicht leuchtete.
»Vielleicht hättest du die Möwe spielen sollen!«, sagte sie mit einem etwas undeutlichen Lächeln. Daraufhin stellte sie sich auf die Zehenspitzen und hauchte mir einen
Kuss auf die Wange.
Max blieb pragmatisch: »Du warst gar nicht so schlecht, Alter!«
Nach dem Tod seiner Mutter war es mit ihm langsam wieder bergauf gegangen. Die Erschütterung hatte ihn in seine Einzelteile zerlegt; doch über die Monate hatte sich alles wieder
zusammengefunden. Dabei hatten sich offensichtlich alle kindlichen Formen endgültig ausgewachsen. Er sah verteufelt gut aus. Kantig, erwachsen, breitbeinig und blond stand er da und grinste
mich anerkennend an.
»Gar nicht so schlecht!«, wiederholte er noch einmal.
Das Buffet war bald leer geräumt, lediglich ein paar vereinzelte Salatblättchen lagen da und dort auf den Platten wie zertrampelte Fähnchen auf einem Schlachtfeld. Man stand
herum, unterhielt sich, rauchte und soff, was das Zeug hielt. Die Damen kicherten, die Herren schwadronierten, der Bürgermeister hielt stockende Reden, Dr. Krössinger und Fleischermeister
Winscheidt saßen in einer Ecke und stierten im stillen Kummer vereint in ihre Schnapsgläser. Allmählich leerte sich das Foyer, einer nach dem anderen torkelte ins Freie. Vater
verabschiedete sich, immer noch sprachlos vor Stolz, mit einem festen Händedruck, und gleich darauf gingen auch Max und Lotte. Ich sah, wie sie eng nebeneinander die Treppe hochmarschierten
und wie seine Hand mit jeder Bewegung ihrer Backe elegant mitschaukelte, dann waren sie weg.
Nur mehr eine Handvoll Leute war übrig geblieben, die herkömmlichen Restschatten jeder Feierlichkeit. Neben der Garderobe stand das kleine Grüppchen der Theaterliebhaber, allesamt
ziemlich schräge junge Leute, die schon die ganze Zeit zu mir herübergestarrt hatten und mich jetzt zu sich winkten. Ausgemergelte Jungs mit pickeligen Stirnen und schwarzen
Rollkragenpullovern. Unförmige Mädchen mit Brillen und wallenden Kleidern. Alle rauchten wie die Schlote und schauten wahlweise mit vergeistigtem oder verträumtem Blick in der Gegend
herum. Einzige Ausnahme war ein dünnes Mädchen mit stoppelkurzen, strohblond gefärbten Haaren, die einfach nur so dastand und mich von Kopf bis Fuß musterte. Ihre Augen
bildeten einen merkwürdigen Kontrast zu den hellen Haaren. Sie waren dunkelgrün wie der Boden einer Weinflasche und standen ein wenig schräg. Es waren Fuchsaugen. Sie trug einen
engen, weißen Pulli und hatte die Hände tief in den Taschen einer sackartigen Hose vergraben. Ihr linker Mundwinkel zuckte leicht. Eine winzige Bewegung, kaum zu erkennen.
Die Theaterfreaks gratulierten mir. Wollten reden. Diskutieren. Irgendetwas Tiefschürfendes über das Stück erzählen oder erzählt bekommen. Alle sahen ziemlich gescheit
aus und quatschten auch so daher. Die Gesetze der dramatischen Verkürzung, die Figuren als Funktionäre der Fabel, die sekundäre Verführung als erregendes Moment der Exposition
und so weiter.
Ich gähnte laut, verdrückte mich in den Zuschauerraum und schloss die Tür hinter mir. Ich kletterte auf die Bühne und legte mich auf die Bretter. Nur ein winziges
Lämpchen in der Seitengasse brannte, sonst war es dunkel. Still und angenehm. Immer noch lag der süßlich-herbe Premierengeruch im Raum. In meinem Kopf schwirrten verzerrt und neblig
die Bilder des Tages. Für heute hatte ich genug. Ich stand wieder auf und ging. Möglichst unauffällig drückte ich mich an den Premierenüberbleibseln vorbei, stieg die
Treppe hoch und trat ins Freie.
Im Hof glänzten die Pflastersteine. Es roch nach feuchtem Asphalt mit einer Prise Hundescheiße. Aber die Luft war angenehm kühl und klar.
»Gehst du nach Hause?«
Es war der strohblonde Stoppelkopf. Da stand sie, mit dem Rücken an die Wand gelehnt und sah zu mir herüber. Die Glut ihrer Zigarette erhellte für einen Moment das Gesicht mit den
Fuchsaugen.
»Weiß nicht!«, sagte ich und zuckte mit den Schultern.
»Lass uns ein bisschen rumfahren!«, sagte sie und schnippte die Kippe weg. Ich sah, wie das Glutpünktchen durch die Luft zischte und in einer öligen Pfütze
erlosch.
Gleich an der Hofeinfahrt stand ihr Wagen, ein uralter Blechkübel unbestimmter Herkunft, der überall mit bunten Aufklebern überzogen war. Lachende Sonnen, schillernde Regenbogen,
Love, Peace, Happiness und so weiter.
»Die decken die Rostflecken ab und halten die ganze Kiste zusammen!«,
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