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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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dunklen
Vorhangfalte.
    Den Nachmittag verbrachte ich in meinem Zimmer. Ich lag ausgestreckt auf dem Bett und fühlte mich eine ganze Weile ziemlich großartig. Dann kam das Lampenfieber.
    Der Apfelbaum war die eine Sache, doch in ein paar Stunden würde es ums Ganze gehen. Kinder als Publikum sind grausam in ihrer Ehrlichkeit, gleichzeitig aber auch gutmütig. Im Grunde
wollen sie immer das Beste, und sie tun alles, um es zu kriegen. Bei den Erwachsenen liegt die Sache anders: die wenigsten wollen das Beste. Die meisten bevorzugen ganz im Gegenteil das Schlechte.
Das Scheitern. Das Versagen. Den Untergang. Sie möchten andere Erwachsene stürzen sehen. Mit Vorliebe und inbrünstiger Schadenfreude sehen sie ihren Mitmenschen dabei zu, wie sie
sich auf die Schnauze legen. Das Missgeschick der anderen relativiert das eigene Unglück.
    Es wurde allmählich kühl im Zimmer. Ich wickelte mich in die Decke ein und dachte an die Dinge, die heute Abend schieflaufen könnten. Ich könnte mich zum Beispiel in meiner
Toga verheddern, hilflos umkippen und mit dem Kopf gegen eine Scheinwerferhalterung rumsen. Eine Schraube würde sich entweder in meine Schläfe oder in mein Auge bohren, ich würde
blutüberströmt rückwärts über die Bühne wanken und genau in der Mitte zusammenbrechen. Der begeisterte Szenenapplaus des Publikums würde nicht mehr in mein
erlöschendes Bewusstsein dringen.
    Ich ging noch einmal den Text durch. Es fehlte nichts. Die Worte saßen unverrückbar an ihrem Platz. Gar nichts würde passieren, alles würde gut gehen, es würde perfekt
laufen, einfach wunderbar, der Start einer großen Karriere.
    Ich hörte mein Herz unter der Decke pochen, dumpf und schnell, wie ein kleines Maschinenhämmerchen. Und der Zeigefinger meiner rechten Hand schlug die Synkopen dazu. Draußen riss
jemand sein Fenster auf und brüllte etwas Unverständliches in den Hof hinunter. Ein paar Tauben flatterten verschreckt auf, dann war es wieder still. Noch drei Stunden bis zum
Vorstellungsbeginn.
    Ich blickte zur Decke hoch. Seit einigen Tagen bildete ich mir ein, dass sich Spaniens Landesumrisse verändert hatten. Fast unmerklich hatte sich der Grenzverlauf zu verformen begonnen,
hatte sich nach allen Richtungen ausgedehnt und seine ursprüngliche Kontur fast zur Gänze verloren. Im Grunde genommen hatte das Ganze mit Spanien überhaupt keine Ähnlichkeit
mehr. Viel eher erinnerte der Deckenfleck jetzt an ein riesiges, ausgebeultes Herz, beziehungsweise, bei genauerer Betrachtung, an einen gewaltigen, pockennarbigen Arsch. Zudem war er dunkler
geworden und schien ganz leicht zu glänzen. Aber das konnte auch Einbildung sein.

PREMIERENFIEBER
    Außer den Veranstaltungen in der Volkshochschule, den von der Bürgermeistergattin organisierten Adventslesungen und den gelegentlichen Blechmusikkonzerten hatte die
Stadt kaum kulturelle Höhepunkte zu bieten. Die Premieren im Theater im Kellerloch standen daher bei den Leuten hoch im Kurs. Die Abende waren schon Wochen vorher ausverkauft, und um die
wenigen Ehrenkarten gab es jedes Mal ein schamloses Gehacke und Gezerre. Im Rathaus wurde penibel darauf geachtet, dass jede Fraktion vertreten war und die Mitglieder der einzelnen Parteien kein
zahlenmäßiges Übergewicht bekamen. Waren zwei Sozialisten angesagt, konnte man sicher sein, dass auch zwei Schwarze, zwei Gelbe und zwei Vertreter der Pensionärspartei im
Zuschauerraum hockten und sich gegenseitig misstrauisch beäugten. Und auch alle anderen, die in der Stadt etwas zu sagen hatten oder glaubten, etwas zu sagen zu haben, erschienen zu den
Kellerlochpremieren. Man wollte sehen und gesehen werden. Man wollte dazugehören, seinen über Jahrzehnte erkämpften oder erschlichenen oder erdienerten Platz in der Gemeinschaft
nicht verlieren. Neuigkeiten wurden ausgetauscht, Küsschen, Komplimente und andere Nettigkeiten wurden verteilt. Mit goldenem Lächeln wurden versteckte Gemeinheiten verspritzt oder offene
Beleidigungen ausgestoßen. Die Premieren waren ein gesellschaftliches Muss. Wer nicht kam, war tot.
    Da mein Auftritt als Platon erst Mitte des zweiten Aktes erfolgte, war ich für den Einlass, die Garderobe und den Ausschank zuständig. Ich riss die Karten ab, nahm
feuchte Jacken und muffige Mäntel entgegen und verteilte Sektgläser. Soweit ich es überblicken konnte, waren alle da: Mitten im Foyer stand der Bürgermeister, triefend vor
öligem Selbstbewusstsein, und schwang süffisante Reden. An seiner Seite

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