Jetzt wirds ernst
erklärte sie und stieg ein. Drinnen roch es nach Räucherstäbchen und kaltem Zigarettenqualm. Es
herrschte unbeschreibliches Chaos. Der Boden war knöcheltief bedeckt: Schuhe, dreckige T-Shirts, halbvolle Weinflaschen, benutzte Taschentücher, zerdrückte Zigarettenpäckchen,
eine zerknüllte Jacke aus rosarotem Kunstpelz und jede Menge völlig undefinierbares Zeug. Am Rückspiegel hing ein Bündel verbrauchter Duftbäumchen. Von der Decke baumelten
unzählige, zart klickernde Glasperlenkettchen. Auch das Armaturenbrett und Teile der Fenster waren mit bunten Bildern und Sprüchen überklebt.
Der Motor heulte auf, es krachte im Getriebe, der Wagen machte einen Hüpfer und wir fuhren los. Die Straßen waren fast menschenleer. Nur hie und da wankte ein Besoffener oder
schlurfte ein schlafloser Spaziergänger durch die Dunkelheit. Die Blonde rührte mit dem Schaltknüppel herum wie mit einem Kochlöffel. An ihrem Mittelfinger steckte ein
großer, blutrot glänzender Ring.
»Wie heißt du?«, fragte ich.
Keine Antwort. Stattdessen drückte sie das Gaspedal bis zum Anschlag durch, schob eine Kassette in den Rekorder und drehte auf volle Lautstärke. Ein teuflisches Geheul ging los. Eine
schrille Stimme, heiser und kraftvoll. Dazu eine kreischende Gitarre und ein Bass, der mich tief in die zerschlissenen Sitzpolster drückte.
» Black dog!«, schrie die Blonde und schlug mit beiden Fäusten begeistert auf das Lenkrad ein. »Das ist Rock ’n Roll, Baby! Rock ’n
Roll!«
In diesem zarten Mädchenkörper steckten offenbar Energien, die man ihm nicht zugetraut hätte. Ein wenig ängstlich tastete ich nach dem Sicherheitsgurt. Aber es gab keinen.
Der Kassettenrekorder vibrierte und zuckte, als wollte er jeden Moment aus seiner Halterung springen und mir an die Gurgel gehen. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und drehte leiser. Mit leicht
hochgezogenen Augenbrauen blickte sie zu mir herüber.
»Sensibel, was?«, fragte sie und zündete sich eine Zigarette an.
»Kann sein«, antwortete ich.
Schweigen. Draußen zog die schlafende Stadt vorüber. Sie hatte den Fuß ein wenig vom Gas genommen, lehnte sich entspannt zurück und ließ den Rauch in dünnen,
bläulichen Kräuseln knapp vor ihrem Gesicht hochsteigen. Unter dem weißen Pullover zeichneten sich ihre Brüste ab. Klein und fest. Ich startete einen neuen Versuch:
»Waren das deine Freunde, da unten im Theater?«
»Diese Idioten?«
Sie kurbelte das Fenster runter und spuckte verächtlich ein Tabakschnipselchen ins Freie. Der feuchte Fahrtwind blies uns um die Ohren und verwirbelte einen losen Papierhaufen auf der
Rückbank. Für eine paar Sekunden flatterten die Blätter herum wie ein aufgeschreckter Vogelschwarm.
»Außerdem bin ich nur auf der Durchreise …«
»Wo willst du denn hin?«
»Weiß nicht. Jedenfalls in eine Stadt. Und zwar in eine richtige Stadt. Nicht in so ein Drecksloch wie dieses hier …«
Vor uns tauchten die Umrisse der Hermann-Conradi-Gesamtschule auf, hoch, breit und dunkel. Sie legte den Wagen elegant in die Kurve und bog ab. Auf der Fahrbahn glänzten die
Straßenbahnschienen. Das gelbe Licht einer einzelnen Ampel blinkte uns hinterher. Black dog verklang mit einem letzten Aufheulen. Das nächste Lied setzte ein, dieselbe schrille
Stimme, dieselbe kreischende Gitarre, derselbe wummernde Bass. Hart. Herzzerreißend. Aufwühlend.
»Ich werde nämlich Schauspielerin!«, sagte sie. Ich lugte unauffällig zu ihr hinüber. Die Zigarette hing leicht zitternd in ihrem Mundwinkel. Ihre Augen schienen jetzt
noch ein wenig schräger zu stehen. Sie strahlten unter den vorbeiziehenden Straßenlaternen. Das Auto rumpelte über ein Schlagloch, im Unterboden krachte es hässlich, am
Rückspiegel schlenkerten die Duftbäumchen wild hin und her. Die Blonde lachte kurz und hell auf, dann ging es wieder ruhig weiter.
Nach einer Weile begann es unter den Reifen zu knirschen, nach allen Seiten spritzten Steinchen weg, die Häuser wurden niedriger, die letzte Laterne blieb zurück, die ersten
Gemüsegärtchen tauchten auf, das flache Glasgestell einer Gärtnerei, eine halb zerfallene Holzhütte, ein rostiger Schrotthaufen, ein paar verfaulte Strohballen – und
aus. Die Straße war zu Ende.
Wir hielten an, der Motor ging aus, und mit ihm die Musik. Vor uns lag der Acker. Eine weite, kalte Dunkelheit. Hin und wieder schimmerte der Mond durch die Wolkendecke und streute ein
spärliches Licht über die Ebene. Die Furchen lagen da wie
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