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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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Bewegungen wurden schneller und wilder, das ganze Auto fing an zu schaukeln und zu quietschen. Die Perlen an
der Decke schlenkerten und klackerten wie verrückt herum, ich hörte, wie vorne der Kassettenrekorder aus der Halterung rutschte und an den Kabeln baumelnd im Rhythmus unserer Bewegungen
gegen die Verkleidung schlug. Ich nahm ihre Finger in den Mund, knabberte daran, biss in das Fleisch am Handballen. Ihre Seufzer wurden jetzt lauter. Kleine, spitze Schreie. Ich bemühte mich
mitzuhalten, dranzubleiben, nicht verloren zu gehen. Ich kämpfte, presste, stieß. Mit jedem Stoß pumpte ich mich weiter auf. Ein zum Zerplatzen gefüllter Ballon, der sich
immer noch ausdehnte. Sie war jetzt dicht über mir. Ich sah, wie ein Schweißtropfen an ihrer Stirn zitterte und sich langsam löste, wie in Zeitlupe.
    Und in diesem Moment, jetzt, ja, jetzt, endlich, endlich, endlich platzte der Ballon und das Auto, ich, das Mädchen, die ganze Welt flogen auseinander und die Glasperlen unter dem Dach
verglühten wie Sterne am Himmel.
    Der Nachhauseweg war kurz. Sie fuhr nicht schnell, tippte nur ganz leicht mit der Fußspitze aufs Gaspedal und zog konzentriert an ihrer Zigarette. Wieder sah ich, wie
sich die blauen Kringel an ihren Wangen hochkräuselten. Sie hatte den Kassettenrekorder mit einem knackigen Schlag gegen das Armaturenbrett wieder zum Laufen gebracht und zurück ins Fach
geschoben. Und da war es wieder, dieses Kreischen, Heulen, Wimmern.
    Stairway to heaven hatte sie trocken festgestellt. Und das war es auch. Eine Treppe in den Himmel. Ein minutenlanger sanfter Anstieg, der fast unmerklich steiler und steiler wird, ein
wolkenzartes, wiegendes Herantasten, das sich steigert, endlos und unerträglich, Schritt für Schritt, Takt für Takt, bis sich auf einmal der Himmel öffnet und du mit einem
heisereren Juchzer abhebst und die Wolken durchbrichst.
    Es war das Größte, was ich jemals gehört hatte. Was es überhaupt geben konnte.
    Als wir vor meiner Wohnung ankamen, dämmerte es bereits. Ein kühler, bleigrauer Morgen.
    »Möchtest du vielleicht noch …« Den Rest konnte ich mir sparen. Sie schüttelte einfach nur den Kopf.
    »Aber wann sehen wir uns denn wieder?«
    Sie starrte eine Weile müde vor sich hin, öffnete schließlich das Handschuhfach und kramte einen großen, stark zerschlissenen Papierfetzen heraus. Eine Landkarte, die nur
notdürftig von Klebeband zusammengehalten wurde. Ein paar Städte waren mit rotem Filzstift eingekringelt und miteinander verbunden. Es waren sieben oder acht. Große und bekannte
Städte. Die dicken Filzstiftlinien durchzogen kreuz und quer das ganze Land.
    »Hier irgendwo werde ich sein …«, sagte sie, knüllte die Karte zusammen und stopfte sie mir ins Hemd. Ich saß da und wusste nicht weiter. Ein Schmerz stieg in
mir hoch und trieb mir die Tränen in die Augen. Eine Angst. Bitter und heiß.
    »Aber wir könnten doch …«
    Sie ließ den Motor an, steckte sich die nächste Zigarette in den Mund und sah zur anderen Seite aus dem Fenster hinaus. Kurz starrte ich auf ihren Nacken, auf ihren schmalen
weißen Hals. Dann öffnete ich die Tür und stieg aus.
    Sie gab sofort Gas. Ich sah noch, wie die Glasperlen über ihrem strohblonden Kopf aufgeschreckt hin- und herpendelten. Danach bog der Wagen um die Ecke, und sie war weg.
    Ein paar Minuten stand ich einfach so da, dumm und verwirrt. Es fröstelte mich leicht. Der Himmel hellte sich allmählich auf. Weit weg ratterte ein blecherner Rollladen. Unter meinem
Hemd knisterte die zerknüllte Landkarte, in der Brust brannte mein Herz und in der Hose mein Schwanz. Ich war nun kein Junge mehr. Und das tat weh.

SAMSTAGABENDUNTERHALTUNG
    Fast ein ganzes Jahr war seit meinem Drehtag im Strickwarenladen der alten Frau Chalupa vergangen. Ich hatte die Sache mittlerweile fast vergessen, als mir Vater bei einem
meiner selten gewordenen Besuche im Friseursalon mit einer aufgeschlagenen Fernsehzeitschrift vor der Nase herumfuchtelte.
    »Mein Sohn kommt ins Fernsehen!«
    Ich nahm ihm die Zeitschrift mit gespielter Gelassenheit aus der Hand und sah mir die Sache etwas genauer an. Tatsächlich war eine ganze Seite unserem Film gewidmet. In der Mitte prangte
ein riesiges Foto der Hauptdarstellerin. Sie sah verdammt gut aus, viel besser noch als in Wirklichkeit. Ihre Haut war glatt und rosig wie die eines neugeborenen Ferkels, das Haar durchflutet von
ätherischem Licht, die Zähne strahlten in herrlichem Weiß, und der

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