Jillian Hunter
wenig im Leben des Viscounts gegeben, was das Interesse der Dorfbewohner nicht geweckt hätte. Sein Mörder war nicht gefasst worden, aber in der Dorfschenke wurden im- mer noch Wetten darauf angenommen, dass ein erzürnter Ehe- mann Rache genommen hatte.
Natürlich war zum Zeitpunkt seines Todes eine Frau an sei- ner Seite gewesen. Den Gerüchten nach war sie allerdings nicht nur an seiner Seite gewesen, sondern hatte nackt unter ihm gelegen, als er erstochen worden war. Und es war ihre dra- matische Erzählung von dem Verbrechen, das ein maskierter Eindringling begangen hatte, die das schläfrige Dorf bis in seine Grundfesten erschüttert hatte.
Tante Gwendolyn sprach mit sehr leiser und etwas sensati- onslüsterner Stimme, als ihr Gemahl das Haus betrat. „Der gut aussehende Teufel hat Miss Beryl Waterbridge verführt, als sie letzte Nacht beim Abendgebet kniete."
Onkel Humphrey blieb in der Eingangshalle stehen und zwinkerte Chloe mit seinen braunen Augen belustigt zu. „Ich habe nichts Derartiges getan. Ich war den ganzen gestrigen Abend hier in diesem Haus und habe mit meiner lieben Nich- te Karten gespielt. Ist das nicht richtig, Chloe? Gibst du mir ein Alibi?"
Chloe schälte sich aus ihrem leichten rosa Wollmantel. Sie fragte sich geistesabwesend, wann sie wohl den gut aussehen- den Justin Linton, Lord St. John, Wiedersehen würde. Als sie sich verabschiedet hatten, hatte er geschworen, nicht ohne sie leben zu können. Chloe hatte über diesen schwärmerischen Unsinn nur gelacht. „Ich kann für dich bürgen, Onkel Humph- rey", versicherte sie beherzt und grinste ihm über die Schul- ter zu. „Ich habe nicht bemerkt, dass du auch nur einen einzi- gen Menschen verführt hast."
Im Garderobenspiegel betrachtete sie ihre Reflektion und versuchte, sich so zu sehen, wie Justin es an diesem Abend getan haben musste. Er hatte zwar zugegebenermaßen zwei- mal mit ihr getanzt, aber Chloe konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob seine Aufmerksamkeit nicht vielleicht doch zu ir- gendeiner anderen jungen Frau gewandert sein könnte, deren Haar heller war als Chloes, die eine etwas lieblichere Stimme hatte und zurückhaltender war.
Sie musterte sich mit gerunzelter Stirn. Konnte das ihr fa- taler Fehler sein? Ihre Unfähigkeit, so ... sittsam zu sein wie andere junge Damen? Tragischerweise schien dies eine Eigen- schaft zu sein, die in ihrer Familie lag, und Chloe war sich nicht sicher, ob sie daran etwas ändern wollte, selbst wenn sie es gekonnt hätte. Sie nahm an, dass sie wenigstens hätte ver- suchen sollen, den allgemeinen Erwartungen zu entsprechen, damit sie anziehender wirkte. Ihre Schwester Emma hatte ihr stets dazu geraten, aber in ihrem tiefsten Herzen wünschte sie sich eigentlich, auch von ihrer schlechtesten Seite geliebt zu werden.
„Und durch ihre Schreie wurde ihr Vater alarmiert, der sich bei dem Versuch, sie zu retten, einen Zeh brach", beendete Tante Gwendolyn ihre Geschichte und machte eine Pause, um nach ihrer Erzählung wieder zu Atem zu kommen. „Beryl fiel siebenmal in Ohnmacht, bevor sie gestehen konnte, was der Geist ihr angetan hatte."
Chloe, die immer noch in den Spiegel gesehen hatte, fuhr herum. Ihre Aufmerksamkeit war geweckt worden. „Woher weißt du, dass die Frau nicht geträumt hat? Hat ihr Vater den Geist überhaupt gesehen?"
Tante Gwendolyn starrte sie mit milder Verachtung an. „Ih-
re Lippen kribbelten von den geisterhaften Küssen, Chloe. Und nein, natürlich sah Beryls Vater den Geist nicht. Ich ver- mute, er hatte solche Schmerzen im Zeh, dass es ihm auch ei- nerlei gewesen wäre, wenn er ihn gesehen hätte."
„Nun, was hat der Geist ihr denn angetan?"
„Eine anständige Frau kann solch verdorbene Dinge nicht wiederholen, Chloe."
Chloe lächelte, während sie dem Dienstmädchen ihre par- fümierten Handschuhe reichte. „Das ist das Problem an die- sem Dorf. In eurem Leben mangelt es derart an Aufregung, dass ihr euch sogar Geister ausdenkt, die schlafende Frauen verführen. Wenn einer von euch ein bisschen Mumm hätte, je- mand auch nur das winzigste bisschen Wagemut besäße, hätte er eine echte Affäre, und dann ..."
„Das reicht jetzt wirklich, Chloe", sagte Gwendolyn, und ihr freundliches Gesicht wurde ganz rosa. „Ich glaube, dass deine Waghalsigkeit dir diesen ganzen Ärger überhaupt erst eingebrockt hat und sie einzig und allein der Grund dafür ist, warum deine verständlicherweise verzweifelten Brüder dich hierher geschickt haben, um
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