Jillian Hunter
eigenen Schicksal interessiert als an den imaginären Taten eines Toten. Ihr entfuhr ein Seufzer der Er- leichterung, als die Kutsche die Auffahrt entlangfuhr und hol- pernd zum Stehen kam. Niemand würde ihr glauben, dass sie die Chemise zum Trocknen aus dem Fenster gehängt hatte - ihr unschickliches Benehmen war in diesem langweiligen Provinz- nest eine Quelle lüsternen Interesses und freundlicher Besorg- nis zugleich. Zu allem Überfluss hatten Chloes Verwandte vom Lande die gesamte Gemeinde dazu ermutigt, sie zu reformie- ren, anstatt sie zu meiden. Sie war ständig von übereifrigen Moralisten umgeben, Menschen mit guten Absichten, die über die Sünde, die sie begangen hatte, Bescheid wussten.
Als sie in einem Park dabei erwischt worden war, wie sie Lord Brentford geküsst hatte, war sie von ihrem Bruder, dem Marquess of Sedgecroft, umgehend in das Haus ihres Onkels, Sir Humphrey Dewhurst, verbannt worden. Es war für ei- ne gesellige junge Frau die schlimmste Strafe, die man sich nur vorstellen konnte. Chloe hätte den Rest des Jahres mög- licherweise bereits abgeschrieben, wenn sie nicht am heuti- gen Abend den charmantesten Mann von ganz Chistlebury auf dem Ball kennengelernt hätte. Ihre Taille war immer noch warm an der Stelle, wo er sie gehalten hatte - viel länger, als es sich ziemte, aber doch nicht lange genug, dass die Leute,
die sie beobachtet hatten, es als Annäherungsversuch hätten verstehen können. Es schien also, als gäbe es doch noch Hoff- nung für sie. Möglicherweise würde ihr Exil sogar ein wenig Aufregung mit sich bringen. Die Kuppler des Dorfes hatten ermutigend zugesehen, als sie und Lord St. John auf der Tanz- fläche miteinander kokettiert hatten.
Sie sprang geradezu aus der Kutsche, ignorierte das verär- gerte Zischen ihrer Tante und stürzte schnurstracks auf das Haus zu. Schon auf den Steinstufen vor dem Haus schlüpf- te sie aus ihren hochhackigen, bestickten Tanzschuhen. Im Grunde war es kein echtes Herrenhaus, sondern eher ein ausgebautes steinernes Bauernhaus mit einem Teich voller lärmender Enten unter ihrem Fenster. Sie vermisste den Ge- stank, das Gedränge und die Gefahren Londons ebenso wie den Klatsch und die täglichen amüsanten Zusammenkünfte. Auch ihre Freunde fehlten ihr sehr, obwohl die meisten sie bereits vergessen hatten, so beschäftigt waren sie mit all den Vergnügungen, Festen und prunkvollen gesellschaftlichen An- lässen.
„Chloe!" Ihre winzige Tante stürzte sich auf sie wie Attila der Hunne, wobei ihre Rosshaarunterröcke gegen den Türrah- men schlugen. „Ich habe gesehen, dass dein Schlafzimmer- fenster offen stand, als wir heute Abend aufgebrochen sind", sagte sie und drückte eine von bläulichen Adern überzogene Hand aufs Herz, während sie wieder zu Atem kam.
Chloe wandte sich um und traf den Blick der rot gelock- ten jungen Frau, die in der Eingangshalle stand. Es war ihre Cousine Pamela, die aufgrund eines verknacksten Knöchels den Ball verpasst hatte und jetzt hinter Tante Gwendolyns Rücken seltsame, unverständliche Handzeichen machte.
„Es war nicht das Schlafzimmerfenster", erwiderte Chloe langsam. Sie versuchte verzweifelt, Pamelas Gesten zu deu- ten. „Es war das Fenster des Ankleidezimmers, und ..."
„Ich habe es geöffnet, um das Ankleidezimmer einmal gut durchzulüften", fuhr Pamela fort und signalisierte Chloe, dass sie ruhig sein sollte. „Es roch ein wenig stark nach Pu- der und Parfum."
Tante Gwendolyn war zu sehr damit beschäftigt, ihre zier- liche Figur aus einer mit Fuchspelz besetzten Pelerine zu
befreien, um die heimliche Pantomime zu bemerken. „Nun, sorge dafür, dass es sicher verschlossen ist, bevor wir uns zu- rückziehen. Auf dem Ball heute Abend gab es kein anderes Gesprächsthema als die neuesten Eskapaden des Geistes von Stratfield."
Pamela machte große Augen und vergaß allem Anschein nach vollkommen, dass sie Chloe eigentlich hatte helfen wol- len. „Oh, und was hat unser böser Geist nun schon wieder ge- trieben?"
Tante Gwendolyn machte eine dramatische Pause und fass- te mit einer Hand nach den Onyxknöpfen an ihrer Kehle. Es gab keine Frau in der Gemeinde, die Leben und Sterben des schrecklich aufregenden und fürchterlich verruchten Viscount Stratfield nicht voller Spannung verfolgt hatte, vielleicht mit Ausnahme von Chloe, die ja eben erst angekommen war.
Angefangen bei seinen Heldentaten im Krieg bis hin zu sei- ner brutalen Ermordung im Bett vor beinahe einem Monat hatte es nur
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