Jillian Hunter
keinen Zweifel. Aber ob es dieselbe Dame war, die mit ihm das Bett geteilt hatte, als er kaltblütig niedergestochen wor- den war, konnte er nicht sagen. Und inzwischen war es auch unwichtig. Jene Liebesaffäre gehörte der Vergangenheit an und war gemeinsam mit seiner früheren Identität gestorben. Seine Gefühle für seine ehemalige Mätresse waren genauso tot, wie er es ihrer Meinung nach war.
Der Hufschlag von näher kommenden Pferden und das Ge- räusch von Kutschenrädern auf der Auffahrt unterbrachen seine düsteren Überlegungen. Er betete zu Gott, dass die Be- sitzerin dieser Truhe, wer auch immer sie sein mochte, nicht beschließen würde, in dieser Nacht ihr Ankleidezimmer zu un- tersuchen. Denn soweit er das beurteilen konnte - und zufälli- gerweise war er ein Kenner weiblicher Unterwäsche -, würde die zierlich gebaute Besitzerin dieser Kleidungsstücke mit Si- cherheit ganz unziemlich kreischen, wenn sie einen Geist in- mitten ihrer Leibwäsche fand.
Aus den stickigen Tiefen der schwerfälligen Kutsche konnte Lady Chloe Boscastle ausmachen, dass eines ihrer Unterklei- der wie ein unanständiges Banner aus ihrem Schlafzimmer- fenster hing. In ungläubigem Erstaunen lehnte sie sich vor. Der größte Teil ihrer persönlichen Besitztümer war erst an die- sem Morgen aus London angekommen. Sie und das Dienstmäd- chen hatten kaum angefangen, alles auszupacken, geschweige
denn etwas davon in ihrem Fenster zur Schau zu stellen.
Möglichst unauffällig versuchte sie, die Vorhänge der Kut- schenfenster zu schließen, und hoffte, dass ihre Mitreisenden diesen peinlichen Anblick nicht bemerken würden. Es war nicht so, als hätte ein derartiger Fauxpas von Chloe zu die- sem Zeitpunkt irgendjemanden überrascht. Sie hatte das un- rühmliche Etikett einer Unruhestifterin mitgebracht, als sie aus London gekommen war, und es wurde schon beinahe von ihr erwartet, dass sie ihr besorgniserregendes Benehmen fort- setzte. Es lag ihr fern, die wachsende Zahl ihrer Kritiker zu enttäuschen.
Das verirrte Kleidungsstück - Himmel, es sah aus wie ih- re Lieblingschemise! - konnte nur bedeuten, dass ihr Bruder Devon, dieser Taugenichts, ihr einen Besuch abgestattet hat- te, während sie zu einem ländlichen Ball in einem riesigen Saal voller Spinnweben gekarrt worden war.
Was hatte der Schurke dieses Mal wohl nur aus ihrer Kam- mer entwendet, fragte sie sich beunruhigt. Er hatte bereits ei- nen Großteil ihres Schmucks versetzt, um seine Schulden zu bezahlen. Aber sicherlich war er nicht so weit gesunken, ihre Unterwäsche zu stehlen ...
Ein amüsanterer Gedanke ließ sie hochfahren. War es viel- leicht möglich, dass Devon als Frau verkleidet durch die Land- schaft zog? Oder hatte er eine weibliche Verbündete gefunden, die ihm Unterschlupf gewährte? Eigentlich sollte er sich bei einem älteren Verwandten im Nachbardorf verstecken. Chloe wurde klar, dass ihr Bruder, der aufgrund einer bloßen Dumm- heit über Nacht zu einer Art heldenhaftem Gesetzlosen ge- worden war, ein wenig verzweifelt sein musste. Sie war selbst eine Boscastle und somit sehr liberal eingestellt, aber es gab dennoch Grenzen, was sich schickte und was nicht. Devon schien jenen Grenzen gefährlich nahe zu kommen, näher, als selbst ein verantwortungsloser Boscastle sich für gewöhnlich wagte.
Sie wandte sich vom Fenster ab, als das antike Gefährt sich mühsam durch die rostigen Eisentore des bescheidenen Anwe- sens quälte, wobei es genügend Lärm machte, um Tote zu we- cken. Ein vorsichtiger Blick auf die erfreulich nichtssagenden Gesichter ihrer Tante und ihres Onkels, die in ihren Augen
ebenfalls als Antiquitäten galten, beruhigte sie. Offensicht- lich hatten sie den verruchten Gegenstand im Schlafzimmer- fenster ihrer verruchten Nichte nicht bemerkt.
„Wie ich eben sagte", fuhr Onkel Humphrey zu ihrer Tante gewandt fort, „der Kater benahm sich lediglich wie ein Ka- ter, Gwennie. Er hat die tote Maus nicht mit der Absicht zum Stuhl des Pastors gezerrt, dich in eine peinliche Situation zu bringen. Sie sollte ein Geschenk sein."
Tante Gwendolyn schauderte damenhaft. Ihr Busen hob und senkte sich wogend. „Ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich mich geschämt habe. Es geschah genau in dem Augenblick, als der arme Pastor von den neuesten Streichen des Geistes von Stratfield erzählte."
„Nicht schon wieder dieser verteufelte Geist, Gwennie. Nicht vor Chloe."
Dabei hörte ihre Nichte ohnehin nur mit einem Ohr zu. Sie war mehr an ihrem
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