Jillian Hunter
sofort die zierliche Ge- stalt ihrer Tante, die gerade den Gartenweg entlangrannte. „Was soll ich machen?", flüsterte sie Dominic zu, der bereits den Rückzug angetreten hatte.
„Benutze deinen Verstand, Chloe", riet er wenig hilfreich, bevor er sich hinter einen Baum duckte.
„Siehst du ihn nicht?", rief ihre Tante. „Gleich dort, du dum- mes Ding! Hinter dem Baum."
„Wen nennst du hier dummes Ding?", fragte Chloe.
„Dich!"
„Ich sehe niemanden." Was nicht ganz gelogen war. Domi- nic war hinter den hohen Bäumen verschwunden, die das Ein- gangstor flankierten, und seine schlanke Gestalt verschmolz mit den langen Schatten.
Zu Chloes Überraschung ergriff Tante Gwendolyn ihren Arm und zog sie in die Richtung von Dominics Schatten. „Da! Dort drüben. Siehst du ihn jetzt?"
Was für ein Dilemma. Chloe hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Wenn sie zugab, dass sie Dominic sehen konnte, würde sie damit sein Geheimnis lüften. Wenn sie so tat, als wäre er nicht da, hätte ihre Tante guten Grund, sie ein dum- mes Ding zu schimpfen.
„Ich hole den Pastor", verkündete Tante Gwendolyn aufge- regt. Ihre silbrigen Locken waren zerzaust. „Komm mit. Nein. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, bleib besser hier. Bewache ihn."
„Wen soll ich bewachen?"
„Den Geist!"
„Was für einen Geist?"
„Den Geist, der direkt vor dir steht."
„Wie kann ich ihn bewachen, wenn ich ihn noch nicht ein-
mal sehe?", fragte Chloe.
In diesem Augenblick trat Dominic mit dramatisch wehen- dem Umhang vor. Er hielt sich im Schatten des Torhauses. „Madam", sprach er Tante Gwendolyn an, „sie kann mich we- der hören noch sehen. Verschwenden Sie nicht Ihren kostba- ren Atem."
Tante Gwendolyn blickte Chloe aus dem Augenwinkel an und murmelte: „Unglaublich."
Dominic neigte den Kopf zu einem ernsten Nicken. „Ziem- lich."
„Sie armer, tragischer Mann - äh, Geist", sagte die ältere Frau besorgt. „Haben Sie Schwierigkeiten mit dem Übertritt auf die andere Seite?"
„Auf die andere Seite von was?"
„Ach, du liebe Güte", erwiderte Tante Gwendolyn nervös. „Mir ist noch nie der Gedanke gekommen, dass er vielleicht versucht hinaufzugelangen, wo er doch eigentlich hinunterge- hen sollte." Sie räusperte sich. „Lord Stratfield, ich muss Sie warnen, dass ich eine verheiratete Frau bin."
Verständnislos sah Dominic sie an. Einen schrecklichen Augenblick lang dachte Chloe, er würde anfangen zu lachen. „Verheiratet?"
„Verheiratet wie in ,meinem Ehemann treu ergeben'. Ich kann mich nicht mit Ihnen vereinen, Mylord."
„Mit mir vereinen?"
„Ich weiß, dass Sie den Ruf haben, Frauen aus der Ge- meinde zu verführen", verkündete Tante Gwendolyn mit zitt- riger Stimme. „Führen Sie mich nicht in Versuchung."
„In Versuchung, was zu tun?", fragte er ehrlich verwirrt.
„Es war gar nicht meine Tochter, nicht wahr?", fragte Tante Gwendolyn mit einem Stöhnen der Erkenntnis. „Ich war es, die Sie suchten!"
Dominic trat zurück in die Schatten. Chloe konnte nur dankbar sein, dass das Tor ihres abendlichen Ausfluges we- gen noch nicht verschlossen war. Er hatte die Möglichkeit, zu entkommen, bevor ihre Tante ihn wirklich zu fassen bekam und herausfand, dass er gar kein Geist war.
„Ich muss Sie jetzt verlassen, Madam", verkündete er und wedelte theatralisch mit dem Umhang.
„Mich verlassen?", rief Tante Gwendolyn. „Aber ich weiß noch immer nicht, warum Sie gekommen sind und welche Hilfe Sie sich von mir erhoffen!"
„Nun, ich ..." Chloe genoss den verwirrten Ausdruck auf seinem gut aussehenden Gesicht. „Ich muss gehen. Ich habe ohnehin bereits zu lange gezögert."
Tante Gwendolyn hob eine Hand an den Mund. „Dann be- deutet das - Mylord, bitte sagen Sie mir, ob unsere Begegnung bedeutet, dass Sie nun Ihre Ruhe gefunden haben?"
„Ah, Madam", erwiderte er, während er sich durch das Tor zwängte. Er warf Chloe einen ironischen Blick zu. „Das ist eine zu persönliche Frage, als dass ich sie Ihnen beantworten könnte."
Er schlang den Umhang um sich und verschwand zwischen den Bäumen.
Tante Gwendolyn stand da und schüttelte ungläubig den Kopf. „Er ist verschwunden. Unser Geist ist verschwunden."
Chloe hätte keine größere Erleichterung verspüren können. Da sie ihn nicht „gesehen" hatte, musste sie natürlich so tun, als wäre sie vollkommen verwirrt. „Bist du dir sicher, Tante Gwendolyn?", flüsterte sie und starrte in den Himmel, als wä- re Dominics Seele auf mysteriöse Weise
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