Jillian Hunter
emporgeflogen.
Ihre Tante folgte ihrem Blick und runzelte die Stirn. „Ich glaube nicht, dass er in den Himmel aufgestiegen ist, meine Liebe", erklärte sie irritiert.
Chloe blickte fragend auf den Boden. „Dann ..."
Die Frau seufzte. „Offensichtlich ist er auch nicht nach un- ten gefahren, obwohl man verständlicherweise zu der Schluss- folgerung gelangen könnte, dass der Hades der passendste Aufenthaltsort für ihn wäre."
Chloe hielt inne. „Wo, glaubst du, ist er hingegangen?"
„Es scheint, als wäre das Leben nach dem Tode komplizier- ter, als der menschliche Verstand begreifen kann, Chloe. Wo ist er hingegangen?" Tante Gwendolyn streckte die Hände gen Himmel. „Er ist weder hierhin noch dorthin gegangen. In den unbekannten Äther."
„Was für ein unbekannter Äther?" Chloe konnte sich die Frage nicht verkneifen.
„Wenn ich das beantworten könnte, wäre er wohl kaum un-
bekannt, nicht wahr?"
„Vermutlich nicht."
„Bah. Ich hätte nicht erwarten sollen, dass jemand mit deiner geringen Lebenserfahrung die Mysterien des Lebens versteht." Sie blickte Chloe durchdringend an. „Unter den gegebenen Umständen ist es vielleicht das Beste, wenn wir mit niemandem über diese Begegnung sprechen. Wir dürfen keiner Menschenseele sagen, dass wir ihn gesehen haben."
„Aber ich habe ja gar nichts gesehen", wand Chloe ein.
„Genau. Und wenn wir wollen, dass er erneut zu mir kommt, dann muss er das Gefühl haben, mir vertrauen zu können." Chloe blickte in den Wald, in dem Dominic sich vermutlich gerade versteckte. „Willst du ihn denn überhaupt Wiederse- hen? Es scheint recht beängstigend, sich mit einem Geist an- zufreunden."
„Meine Liebe, wenn dies das Opfer ist, das ich bringen muss, um dich, Pamela und die anderen Damen aus der Ge- meinde zu schützen, dann soll es so sein."
„Es soll unser Geheimnis bleiben", versprach Chloe be- herzt.
„Sehr gut." Tante Gwendolyn blickte sich gründlich in dem ruhigen Garten um. „Ich muss zugeben, dass mich eines ver- wirrt, Chloe."
Chloes Herz begann wieder zu rasen. Hatte sie wirklich ge- glaubt, sie würde so einfach davonkommen? „Und das wä- re?"
„Was hast du um diese Uhrzeit im Garten gemacht, meine Liebe? Was hat dich dazu veranlasst, herunterzugehen, wenn es nicht der Geist Seiner Lordschaft war?"
16. KAPITEL
Zwei Tage später schlenderte Lord Devon Boscastle die Stu- fen zu dem Herrenhaus seines Bruders Grayson in Park Lane hinauf. Es war das erste Mal, dass Devon seit seiner öffentli- chen Schmach offiziell zu Hause willkommen geheißen wur- de. Der vornehme erste Diener, Weed, führte ihn mit einem warmen Lächeln in den Salon.
Eine Armee von Angestellten war dabei, Vorbereitungen zu treffen, um das Haus für den Aufenthalt des Marquess auf sei- nem Landsitz zu schließen. Die Haushälterin, Mrs. Soames, brachte Devon ein dickes Stück Himbeerkuchen und tupf- te sich bei seinem Anblick Tränen aus den Augen. Ein paar Dienstmädchen schüttelten eifrig die Kissen auf, bevor er sich auf dem Sofa niederließ.
Das schwarze Schaf war offiziell wieder an den Busen der Familie zurückgekehrt. So lächerlich es auch schien, Devon spürte ein überwältigendes Gefühl von Dankbarkeit und Er- leichterung darüber, zu Hause wieder willkommen zu sein. Diese Brut mochte sich manchmal schlecht benehmen, aber unter ihnen herrschte stets ein Gefühl von Akzeptanz und Herzlichkeit, und auch die schwersten Sünden wurden irgend- wann vergeben.
Seine Schwester Emma rauschte einige Minuten später in den Raum, das lockige, rötlich goldene Haar aus dem fein geschnittenen Gesicht zurückgekämmt. Wenn irgendjemand ihm eine Gardinenpredigt halten würde, so war sie es, dachte er mit einem innerlichen Stöhnen. Emma, die holde Diktato- rin, die die Gestalt einer Nymphe und die Gnadenlosigkeit ei- nes Kriegsherrn besaß. Die junge Witwe hatte ihren Gemahl zu Grabe getragen und in Schottland eine eigene Akademie
eröffnet, um ungezähmte junge Mädchen auf den gesellschaft- lichen Pfad der Tugend zu bringen. Im Augenblick lebte sie bei Heath, bis sie sich entschieden hatte, wo sie sich auf Dau- er niederlassen wollte.
„Devon", sagte sie und verschränkte die Hände hinter dem Rücken, um ihn zu betrachten.
„Emma." Er stand auf, um sie zu umarmen. „Wie bezau- bernd du aussiehst."
„Ach wirklich?" Sie lehnte sich ein wenig zurück, um ihm prüfend ins Gesicht zu schauen. Seine Schmeichelei beein- druckte sie nicht im Geringsten. „Eine
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