Jim Knopf 02 - Jim Knopf und die Wilde 13
und Spitzen wohl an die tausend Meter in die Höhe. Das pechschwarze Gestein war so unbeschreiblich zerrissen und zerklüftet, als sei es von Millionen Blitzen zerhackt. Unzählige kleine und große Höhlen und Blasen gaben dem ganzen Berg das Aussehen eines riesigen Schwammes. Außerdem liefen überall in den Felsen rote Adern, die den ganzen Berg mit ihrem schauerlichen Geflecht durchzogen.
Dies also war das schreckliche »Land, das nicht sein darf«.
Um den Sinn dieses Namens wirklich zu verstehen, muss man etwas wissen, was Jim damals noch nicht wissen konnte: Alle Inseln und Berge auf der Welt befinden sich dort, wo sie von Natur aus hingehören. Bei diesem Land aber war das nicht der Fall. Warum es doch da war, werden wir später noch erfahren. Jedenfalls sollte hier nichts anderes sein als das glatte Meer, über das der Wind ungehindert hinstreichen konnte. Deshalb empörten sich die Elemente, die in ihrer Ordnung gestört waren, gegen das Bestehen dieses Landes und tobten mit aller Macht dagegen. Aber weil die Stürme in sinnlosem Wüten von allen Seiten zugleich kamen, hatte sich der gewaltige Wirbel gebildet, in dessen Innerem nun der Felsenberg geschützt und ruhig dalag.
Jim beobachtete, wie die Piraten alles, was sie aus dem kaiserlichen Schiff geraubt hatten, von Bord und in eine der großen Höhlen hineinschleppten. Als sie damit fertig waren, holten sie die Gefangenen und trieben sie ebenfalls in das schwarze Felsentor, zuerst den Kapitän, nach ihm die elf Matrosen, dann kam Li Si und als Letzter Lukas.
War es Zufall oder hatte eine Ahnung den Lokomotivführer veranlasst, sich noch einmal umzuschauen und einen Blick in die Takelage des Schiffes hinauf zu werfen? Jedenfalls tat er es und im gleichen Augenblick begann sein Herz höher zu schlagen: Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er Jims schwarzes Gesicht hinter einem der roten Segel auftauchen, ihm zunicken und wieder verschwinden sehen. Lukas ließ sich seine Entdeckung vor den Piraten mit keinem Wimpernschlag anmerken, aber einem sehr scharfen Beobachter wäre wohl doch nicht das kurze Aufblitzen in seinen Augen entgangen.
Nun war Jim allein auf dem Schiff. Er hatte schon gefürchtet, die Seeräuber würden vielleicht die Segel einziehen und ihn doch noch entdecken. Er konnte ja nicht wissen, dass die »Wilde 13« niemals die Segel einholte, um in jedem Augenblick fahrbereit zu sein. Da zunächst keiner der gefährlichen Burschen wieder ans Tageslicht kam, hatte Jim genügend Zeit, das »Land, das nicht sein darf« gründlich zu betrachten. Eine Weile starrte er in die finstere Wasserwand, die sich immerfort in rasendem Wirbel um den ganzen Berg drehte und von Blitzen durchzuckt war. An den brausenden Orgelton hatten seine Ohren sich inzwischen schon so gewöhnt, dass er ihn kaum noch vernahm. Allerdings hörte er auch nichts anderes mehr, nicht einmal die Donnerschläge. Er war wie taub. Langsam wanderte sein Blick nach oben und als er schließlich senkrecht in die Höhe schaute, da sah er in unendlicher Ferne ein kleines rundes Stück Himmel, das wie ein regloses Auge auf ihn herunterblickte.
»IM AUGE DES STURMS«, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf, »WIRST DU EINEN STERN ERBLICKEN ...«
Das also hatte der »Goldene Drache der Weisheit« gemeint! Aber wie sollte er einen Stern ergreifen, der dort oben auftauchen würde - falls überhaupt einer auftauchen würde. Denn es war ja schon Abend, aber ein Stern war nicht zu sehen.
Jim wartete noch eine Weile und als es schließlich ganz dunkel geworden war, kletterte er vorsichtig in der Takelage auf das Deck nieder, spähte umher und schlich an Land und in die Höhle hinein, in der die Piraten mit den Gefangenen verschwunden waren.
Ein Gewirr von Gängen lag vor ihm, Gänge jeder Größe, vom Durchmesser eines Eisenbahntunnels bis zu dem eines Kanalrohres, ja sogar noch enger, bis zu den feinsten Verästelungen. Es war, als ob er sich durch das Innere eines riesigen Schwammes bewegte. Aber doch war das Gestein hart und scharf wie schwarzes Glas. Jim hätte sich in diesem Irrgarten unfehlbar verlaufen müssen, wenn die Piraten ihren Weg nicht mit brennenden Pechfackeln gekennzeichnet hätten, die links und rechts in den löcherigen Wänden steckten. In hundert Windungen und Krümmungen führte der Gang ins Innere des Berges hinunter, wurde manchmal ganz schmal und eng, dann wieder breit und hoch und bisweilen waren es richtige Kammern und Säle, die Jim durchschritt. Hier
Weitere Kostenlose Bücher