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Jim

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Titel: Jim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lang
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noch ein zweites pornografisches Motiv in den Grabkammern entdeckt, während Anna und Tobias sich schlapplachten. Die brutale Szene zeigte einen Stier mit menschlichem Antlitz, der mit ausgefahrenem Penis und gesenkten Hörnern auf einen jungen Mann losstürmte. Der Junge stand vornübergebeugtund schien mit ausgestreckten Händen den Anprall des Stiers zu erwarten. Gleichzeitig wurde er von einer weiteren Gestalt in den Arsch gefickt. Dieser dunkle Geselle zwang den Jüngling zu seiner gebeugten Haltung, indem er mit der einen Hand seine Brust umfasste und mit der anderen seinen Nacken beugte. Er schaute aber nicht hin, sondern sah über die Schulter zurück, als wäre er gerufen worden. Womöglich fehlte hier ein Teil der ursprünglichen Malerei.
    Als er am nächsten Vormittag zurückkehrte, war Tobias schon wieder bei Anna. Oder immer noch? Frank fragte nicht danach, weder seine Lebensgefährtin noch seinen Freund. Die Verletzung saß tief. Die beiden alberten fröhlich weiter. Sie gingen mit keinem Wort auf seine Abwesenheit ein. Anna verhielt sich ihm gegenüber wie immer. Aber das konnte Verstellung sein, auch wenn sie als ein Mensch galt, der die ungerührte Ehrlichkeit eines Tiers besaß. Gerade dann.
    Seit Tarquinia hatte sich in der Beziehung von Anna und Frank, aber auch in der Freundschaft der beiden Männer etwas verändert, ganz unabhängig von seiner Krankheit. Ein Vertrag war verletzt worden. Opitz hatte das Vertrauen zu Mundt verloren und sich ihm gegenüber verschlossen. Von nun an zuckten sie bei ihren Begegnungen bloß wie zwei Hampelmänner, die sich gegenseitig an der Schnur zogen – eine Bewegung, die sich scheinbar ins Unendliche fortsetzen ließ, auch wenn sie keinen Sinn hatte.
    Eine andere Sache war, dass Anna und er in dem Urlaub nicht ein einziges Mal miteinander geschlafen hatten. Es hatte immer Phasen gegeben, in denen Anna keinen Sex gewollt, und andere, in denen sie oft und innig mit Opitz geschlafen hatte. In Tarquinia war ihm selbst die Lust vergangen. Nachher hatte er gemerkt, dass das nur Trotz gewesen war. Opitz reagierte bis heute auf Annas Reize. Wenn er ihren kräftigen Hintern betrachtete, wollte er sofort mit ihr ins Bett gehen. Er fand ihn immer noch schön fest, auch ihre Schenkel waren seidig und glatt geblieben, und ihr Busen war eine Pracht. Wenn sie ohne BH ging, wirkten ihre Brüste unter dem T-Shirt wie übermütige Tiere. Opitz stellte sich vor, sie wären hungrig, dabei war er es, den sie hungrig machten. Schon der Gedanke reichte aus. Er fühlte sich wie einer, der die dargebotenen Speisen zwar sehen, aber nicht erreichen konnte.

Kleiner Finger
    «Bist du eingeschlafen?»
    Nur mühsam fand Opitz zurück in die Gegenwart. Er ging mit dem Glas zurück und hielt es Mundt mit einer zackigen Bewegung hin. Der schraubte die Flasche auf.
    «Was schreibst du denn über Andrucki?»
    «Hat Anna dir von dem Essay erzählt?»
    «Nein, du.»
    Daran konnte er sich nicht erinnern. Mundt ließ seinen Freund das Glas halten und schenkte ein.
    «Es ist das alte Problem: Wie kann man in hundertfünfzig Zeilen ein komplexes Thema entfalten? Da muss was auf der Strecke bleiben. Meine Hauptthese …» Er zögerte. «Oder andersrum: Jean Moréas hat in seinem symbolistischen Manifest geschrieben: ‹On périt toujours non pour avoir été trop hardi mais pour n’avoir pas été assez hardi.› – Man geht immer zugrunde, nicht weil man zu kühn, sondern weil mannicht kühn genug gewesen ist. Damit hat er sich nicht nur gegen starre poetische Regeln gewendet»
    «Die Übersetzung ist nicht gerade elegant.»
    Jetzt erst nahm Mundt das volle Glas.
    «Andrucki hat sich in einem frühen Aufsatz mit dieser These auseinandergesetzt, ohne ihren Urheber zu nennen. ‹Kann es um etwas anderes gehen als darum, zugrunde zu gehen?›, kritisierte er. Eindeutig eine Anspielung auf Nietzsche. Er hat Moreas transzendiert.»
    «Hat er den Aufsatz denn auf Deutsch geschrieben?»
    «Nein, auf Polnisch. Aber ich habe es mit einer polnischen Nietzsche-Ausgabe überprüft.»
    Das war gelogen. Opitz hatte schlicht einen Denkfehler gemacht. «Ich liebe den, der über sich selber hinaus schaffen will und so zugrunde geht», lautete der Satz, auf den er Andruckis Worte beziehen wollte, im Zarathustra. Ob Andruckis «zugrunde gehen» im polnischen Original des Essays eine wörtliche Entsprechung fand, wusste Opitz nicht. Selbst wenn das der Fall war, konnte er eine Anspielung auf Nietzsche kaum behaupten. Er

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