Jim
wusste ja nicht mal, ob Andrucki Nietzsche auf Polnisch oder auf Deutsch gelesen hatte, geschweige denn, wie Nietzsches Satz auf Polnisch lautete.
«‹Andruckis Satz vom Grunde› soll der Artikel heißen – wie findest du das?»
Er traute sich nicht, seine Dummheit vor Mundt zuzugeben. Vielleicht wollte er auch nicht in denAbgrund schauen, in dem sein Projekt soeben verschwunden war.
«Wer bringt ihn?»
«Das Würvelner Tagblatt», sagte Opitz zerknirscht.
«Ist doch wunderbar.»
«Bei den anderen krieg ich nur noch zu hören, dass die Leute so was nicht mehr lesen wollen.»
«Mach dir keine Sorgen. Es gibt immer noch ein paar Leute, denen es um Erkenntnis geht. Und immerhin arbeitest du seit zwanzig Jahren an diesem Thema. Das bringt Tiefe rein.»
Damals hatte Mundt dafür gesorgt, dass die Zeit einen großen Symbolismus-Essay von Opitz brachte. Schon da hatte sich gezeigt, dass Opitz den meisten Feuilletonisten gedanklich überlegen war. Das musste kein Vorteil sein.
Mundt leerte in einem Zug sein Glas und verzog das Gesicht, als hätte er mit einem anderen Geschmack gerechnet. Dennoch goss er sich sofort einen weiteren Vermouth ein.
«Inzwischen ist mir die politische Dimension dieses Satzes klar geworden.» Immer weiter verteidigte Opitz seinen gestorbenen Essay. «Man muss ihn auf das deutsch-polnische Verhältnis beziehen, genauso wie auf die zwei Seelen in Andruckis Brust. Das Thema brennt.»
«Aber die Symbolisten haben die Gültigkeit der objektiven Welt doch gerade angezweifelt. Das ist das Gegenteil von politischem Denken. In der Novelle‹Das fehlende Glied› lässt Andrucki die Hauptfigur sagen: ‹In meinem hellen Wahn liegt die einzige Wahrheit über das Leben.›»
Opitz horchte auf. Die von Mundt erwähnte Novelle war in dem verlorenen Band enthalten, den er schon so lange suchte.
«Woher willst du das wissen? Dieser Novellenkranz –»
«– ist verschollen, ich weiß. Aber Pirschl zitiert daraus in seinem Aufsatz ‹Ist der Symbolismus ein Prätentionismus?›.»
Opitz fühlte sich immer unbehaglicher. Er hatte sich nie klargemacht, wie gut sein Freund über Andrucki Bescheid wusste. Er erwiderte nichts weiter. So standen die beiden Männer sich eine Weile lang schweigend gegenüber. Schließlich sagte Mundt:
«Zum Glück schreibt Jim keine Gedichte.»
«Vielleicht sollte ich ihm ein Wörterbuch schenken.»
Sie feixten. Es gab so ein Level, auf dem sie wie ein Mann dachten. Mundt nippte noch einmal an seinem Cinzano.
«Ohne Eis schmeckt der Vermouth echt scheiße.»
Er streckte erwartungsvoll die Hand mit dem Glas aus.
«Eis gibt’s in der Küche», sagte Opitz.
Ohne zu protestieren, verschwand Mundt aus dem Zimmer. In Opitz glomm unbändiger Stolz auf. Er war diesmal nicht aufgesprungen, um seinen Freund zubedienen! Zwölf Uhr dreißig, und der Tag hatte sich schon gelohnt.
Irgendwann wurde ihm klar, dass Mundt nicht zurückkommen würde. Er ging ihm in die Küche nach und sah das Cinzano-Glas auf der Anrichte. Die Fenstertür stand offen. Er war demnach zu Anna in den Garten gegangen. Wahrscheinlich hatte er sich nicht klargemacht, dass er da draußen Jim begegnen konnte. Opitz schloss schnell die Tür.
Allein gelassen und planlos kehrte Frank Opitz in sein Arbeitszimmer zurück. Auch dort stand die Balkontür offen. Sicher hatte Anna den Zigarettenqualm gerochen. Die Luft im Zimmer fühlte sich kühl an. Opitz wollte die Balkontür schließen, als er von unten die Stimme seines Freundes hörte.
«Wenn ich es dir doch sage. Ein Ungeborenes, das im Mutterleib mehr Testosteron abkriegt, entwickelt später männlichere Verhaltensweisen. Und es hat eben auch einen im Verhältnis zum Zeigefinger längeren Ringfinger. Andere Studien belegen, dass Männer mit längerem Ringfinger sexuell aggressiver sind.»
«Sexuell aggressives Verhalten –», sagte Anna. Ihre Stimme klang leise, Opitz musste genau hinhören, um sie zu verstehen.
«Sie sind promisker und zeugen mehr Kinder.»
«Sexuell aggressives Verhalten findest du also männlicher?»
«In jedem Fall setzen diese Männer ihre Gene durch.»
«Zeig mal deine Hand.»
Es entstand eine Pause. Sie lachten. Opitz machte die Tür nun zu. Er wollte von dieser Art wissenschaftlichen Boulevards gar nichts hören. Unwillkürlich betrachtete er seine eigene Hand. Zeigefinger und Ringfinger schienen ihm gleich lang zu sein. Allerdings setzte der Zeigefinger tiefer an, war also insgesamt länger als der Ringfinger. Er
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