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Jimmy, Jimmy

Jimmy, Jimmy

Titel: Jimmy, Jimmy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark O'Sullivan
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liegt.
    Nach dem Kampf und dem kleinen Wunder, das Martin nach seiner Ankunft vollbrachte, verzog sich Sean auf sein Zimmer. Aber irgendwas an der Art, wie er mich ansah, sagte mir, dass unser Geheimnis, Dads Geheimnis, bei ihm womöglich nicht mehr lange sicher war. Ich brachte Tom ins Bett, weil Mam noch mit Martin reden wollte. Ich sollte ihm vorlesen, erzählte ihm dann aber lieber eine Geschichte. Das erste Abenteuer von Peter, dem Panzer, das, in dem er eine Giraffe sein will. Ich bin mir nicht sicher, ob Tom die Ähnlichkeit zwischen dem langen Kanonenrohr des Panzers und dem langen Hals der Giraffe wirklich klar war, aber er mochte die Geschichte, und ich musste sie ihm gleich noch mal erzählen. Oder vielmehr zwei Drittel davon. Beim zweiten Mal schlief er da ein, wo Peter glücklich mit den Giraffen spielt und sie noch nicht gemerkt haben, dass er in Wirklichkeit ein Panzer ist.
    Danach warf ich eine von Dads Pillen ein und ging in Seans Zimmer. Er antwortete nicht auf mein Klopfen, was bei ihm heißt, dass man reinkommen darf. Das Licht war aus, aber die Vorhänge waren nicht zugezogen. Das gelbe Licht der Straßenlaterne milderte die Dunkelheit des Zimmers. Sean lag auf seinem Bett.
    »Alles in Ordnung, Sean?«, fragte ich.
    »Ja.« Dann ein tiefes Atemholen, das sagen sollte: Komm rein!
    Ich schloss die Tür hinter mir, stieg über Kleider und Bücher, die auf dem Boden verstreut lagen, und setzte mich ans Fußende des Bettes. Er hatte ein neues Poster an die Innenseite der Tür gepinnt, eine riesige schwarz-weiße Zeichnung. Sie zeigte einen Mann in einem langen Mantel und mit einem Hut, unter dessen weiter Krempe sein Gesicht im Schatten liegt. Schräg hinter ihm stand etwas entfernt ein schwarzer Junge, als wäre er sich nicht sicher, ob er dem Mann folgen soll. Die Bildunterschrift lautete: Der tote Mann. Sean hat das Wort »tote« durchgestrichen. Ich fand das Poster bedrohlich und fragte mich, warum es da hing.
    »Wie schläfst du eigentlich, wenn der Typ dich die ganze Zeit anstarrt?«, fragte ich und gab mir Mühe, dabei locker zu klingen.
    Er starrte das Poster an, als sähe er es zum ersten Mal.
    »Hast du die Judge-Dredd -Comics mal gelesen, die Dad mir gegeben hat?«
    »Seh ich adrenalingesteuert aus?«
    »Okay, Judge Dredd ist einer von diesen Rächertypen«, sagte er und machte zum Glück nicht den Eindruck, als würde er sich über meine flapsige Bemerkung ärgern. »Du weißt schon: Ankläger, Richter und Henker in einem.«
    »Bist du deshalb hinter Clem Healy her? Damit du Ankläger, Richter und …«
    »Ich wollte ihm nie was tun. Ich hatte nur plötzlich die verrückte Idee, ich könnte ihn genauso verfolgen, wie der Mann Dad verfolgt. Inzwischen frag ich mich nur, was das für einen Sinn haben soll. Was überhaupt alles, was wir tun, für einen Sinn hat.«
    Ich merkte, dass die Tablette zu wirken begann, aber nuräußerlich. Meine Hände hatte ich unter Kontrolle, aber innerlich zitterte ich so heftig, dass ich mir die Arme um den Bauch legte.
    »Also hast du aufgehört, ihn zu verfolgen?«
    »Ja«, sagte er und starrte wieder auf das Poster. »Das Verrückte ist, dass Judge Dredd in einer Geschichte das Gedächtnis verliert. Sie heißt ›Der tote Mann‹, und jetzt halt dich fest: Es war Dads Lieblingsgeschichte.«
    »Und hat er’s zurückbekommen?«
    »Was? Wer?«
    »Sein Gedächtnis, Judge Dredd – hat er sein Gedächtnis zurückbekommen?«, fragte ich.
    »Ja. In fantastischen Geschichten geht das.«
    Er massierte sich im Liegen die eine Schulter.
    »Hat er dir wehgetan?«
    »Nein«, sagte er. »Nicht der Rede wert.«
    Ich musste daran denken, dass wir beide noch nie eine echte Unterhaltung geführt hatten. Jedenfalls keine, die nicht in einem Streit geendet hätte. Trotzdem musste ich es riskieren. Ich musste herausfinden, ob er vorhatte, mit Mam zu reden. Und wenn ja, musste ich es verhindern.
    »Hörst du?«, fragte er, als ich gerade loslegen wollte. »Es macht mich verrückt. Dad auch.«
    Ich lauschte und hörte nichts. Was mich erst noch mehr um den Verstand meines Bruders fürchten ließ. Dann hörte ich ein schwaches, kraftloses Jaulen.
    »Sie sollten ihm eins von diesen Spezialhalsbändern für Dauerkläffer anlegen«, sagte er. »Angeblich verpassen die ihnen bei jedem Bellen einen Schock, damit sie Ruhe geben.«
    »Klingt ja grausam«, sagte ich.
    »Auch nicht grausamer als das, was wir mit Dad machen. Bei ihm sind’s nur Pillen, die ihn ruhigstellen.«
    »Doch nur

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