Jimmy, Jimmy
damit er aufhört, sich selbst zu verletzen.«
»Damit er aufhört, sich selbst zu verletzen?«, sagte Sean. »Bist du sicher? Ich meine, ich kann mich gegen ihn wehren – aber du und Tom und Mam?«
»Er würde doch nie … Er würde niemals …«
Argos gab noch ein paar Klagelaute von sich.
»Wirst du’s Mam erzählen? Dass Dad im Gefängnis war? Was er getan hat?«
»Vielleicht wär’s an der Zeit«, sagte er. Dann drehte er sich zur Wand. »Aber ich weiß nicht. Ich überleg mir nur, was das für ein Scheißleben für ihn sein muss. Vielleicht wär’s besser, wenn er nie aus dem Koma aufgewacht wäre. Manchmal denke ich, es wäre besser, er wäre tot.«
»Wie kannst du so was sagen?«
»Es ist die Wahrheit«, sagte er und zog die Knie an, bis er wie ein Baby im Mutterleib dalag. »Und wir verstecken uns vor der Wahrheit, wir alle. Dad driftet immer weiter ab, und wir sagen: ›Er wird schon, alles wird gut, wenn er sich erst wieder eingelebt hat.‹«
»Du wirst es ihr also nicht erzählen?«
»Entscheid du«, sagte er und zuckte mit den Achseln. »Ich hab alles so satt. Du kannst viel besser mit der Sache umgehen als ich.«
Keine Ahnung, warum ich ihm nicht erzählen konnte, dass ich auch am Ende war. Dass mir der Magen wehtat und alle Knochen einzeln. Dass ich jede Nacht weinte, ohne eine einzige Träne zu vergießen. Dass ich mir selbst dabei zusah, wie ich langsam und in aller Stille durchdrehte. Dass die einzige Zeit, in der ich mich einigermaßen beiTrost fühlte, die war, wenn ich welche von Dads Tabletten abgezweigt und eingeworfen hatte. Vor allem, wenn ich dazu noch mit Brian zusammen war.
Wir sind eine Gruppe von sieben, acht Leuten um den Tisch in Brady’s Bar. Eine coole Truppe. Keine extremen Frisuren, keine Designerklamotten, kein Gegröle und kein öffentliches Grapschen. All das gibt es hier in Brady’s Bar natürlich, aber nicht an unserem Tisch. Gerade geht es um neue Alben und Bands, etwas, wovon ich keinen blassen Schimmer habe. Ich bin seit Monaten nicht mehr in MySpace oder You Tube oder wo auch immer gewesen. Ich kann mich nicht mal erinnern, wo mein MP3-Player ist.
»Du bist so still«, sagt Brian, als wüsste er, dass ich ihm etwas verschweige. »Woran denkst du?«
» Les profonditées de l’existence. « Der Satz kommt ungefragt und hat einen bitteren Nachgeschmack. »Dad hat das immer gesagt, wenn er plötzlich still wurde und man ihn gefragt hat, woran er denkt. Ich hab’s mal in einer Französischarbeit benutzt, und Mrs Claffey meinte, es muss profondeurs heißen, nicht profonditées .«
Brian wundert sich, dass ich das beinahe zornig gesagt habe. Eigentlich spielt es keine Rolle, dass Dad das Wort falsch aufgeschnappt hat, aber jetzt gerade tut es das doch. Ich setze mich aufrechter hin und blinzle mehr Verstand in mein Gehirn.
»Mach dir keine Sorgen um mich. War nur ein bisschen früh heute Morgen, das ist alles.«
Wie der Vater, so die Tochter – immer nur Geheimnisse und Lügen , sagt Angie. Geheimnisse sind keine Lügen , sage ich. Nicht immer.
»Bist du sicher, dass du zur Party willst?«, fragt Brian. »Ich meine, es macht mir nichts aus, wenn wir nicht hingehen.«
Er redet davon, dass wir später noch zu einem Freund von ihm eingeladen sind. Bisher habe ich versucht, nicht daran zu denken. Mam ist mit Dad und Tom allein zu Hause. Heute Nachmittag sagte sie, sie wolle nur früh ins Bett, aber für mich klang es, als wollte sie Sean und mir nur zu verstehen geben, dass wir bitte unsere eigenen Pläne machen sollten. Gesagt hat sie es allerdings nur mir. Mit Sean hat sie nicht gesprochen. Vielleicht hätte sie es getan, wenn er ihr die Wahrheit über die Sache mit Argos gesagt hätte.
»Doch, lass uns hingehen«, sage ich zu Brian. »Noch einen Drink, okay?«
Während Brian zur Theke geht, schaue ich mich um, ob Jill auch da ist. Nein. Ich frage mich, ob ich vielleicht der Grund bin, warum sie heute Abend nicht hergekommen ist. Wahrscheinlich. Vor ein paar Stunden waren wir noch zusammen beim Chinesen im Jasmine Garden, aber wir haben uns nicht gerade freundschaftlich getrennt.
Seit wir zwölf sind, treffen wir uns an Silvester mittags in einem chinesischen Lokal. So lange bunkern wir sogar die Weihnachtsgeschenke, die wir füreinander haben, einfach weil es so schön ist, wenn man auch nach den Feiertagen noch was hat, worauf man sich freuen kann. Das erste Mal war es noch spontan, aber dann beschlossen wir, dass wir damit weitermachen, bis wir
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