Jimmy, Jimmy
plötzlich weiß ich, was an ihr anders ist. Sie hat angefangen, sich um ihr Aussehen zu kümmern. Ein bisschen Make-up, ein dunkelgrünes Kleid, das gut zu ihren Mäusehaaren passt, die sie sich stufig hat schneiden lassen, damit sie voller wirken.
»Trennungen sind nie leicht«, sagt sie, jetzt wieder ganz die Verständnisvolle.
»Lass Brian aus dem Spiel! Mit ihm hat das hier überhaupt nichts zu tun!« Innerlich schreie ich, aber was aus mir herauskommt, ist ein Wimmern. »Kannst du uns nicht einfach in Ruhe lassen? Warum willst du unsere Familie auseinanderreißen?«
»Das schaffen wir schon allein«, sagt Sean.
»Sean, Eala!« Die plötzliche Schärfe in Miss Us Ton trifft mich unvorbereitet. »Jetzt hört mir bitte gut zu: Wir alle, mich eingeschlossen, haben eine Idealvorstellung von der Familie, von ihrem Zusammenhalt und davon, wie sie sichin kritischen Zeiten bewähren muss. Aber in der Realität funktionieren wir leider nicht immer so. Wir streiten, arbeiten mit Schuldzuweisungen und haben Zweifel an den Motiven des jeweils anderen. Wir fügen einander Verletzungen zu, und wenn wir damit immer nur weitermachen, können diese Verletzungen niemals heilen.«
Während Miss U redet, höre ich Mam kommen. Ich wünschte, mir würde irgendeine schlaue Antwort auf Miss Us Gelaber einfallen, aber natürlich fällt mir keine ein. Solche Antworten fallen einem nie ein, oder wenn, dann hinterher, wenn es zu spät ist. Mir geht es jedenfalls so. L ’ esprit d ’ escalier , hat Dad das genannt, was mir fehlt. Und sowieso brauche ich jetzt eine Tablette dringender als einen Streit mit Miss U oder Mam, die inzwischen im Wohnzimmer steht. Meine Rettung ist Tom, der aufgewacht ist und weint. Ich stehe auf, aber Mam stellt sich mir in den Weg.
»Ich geh nach Tom sehen«, sage ich zu ihr.
»Martin und ich sind Freunde, mehr nicht, Eala.«
»Ich weiß. Ich weiß, ich hätte so was nicht sagen sollen.« Es ist eine glatte Lüge.
»Einverstanden, dass er dorthin geht?«, fragt sie.
»Ja.« Die zweite Lüge. »Es sind ja nur zwei Wochen.«
Sie lässt mich vorbei. Als sie meinen Arm berührt, versuche ich, nicht zusammenzuzucken.
»Alles wird gut, Eala.«
»Ja.« Die dritte und größte Lüge von allen. Ich gehe weiter und rufe vom Fuß der Treppe: »Ich komme, Tom!«
Die Tür zu Mams Zimmer ist nur angelehnt. Ich sehe Tom, wie er zur Decke schaut. Inzwischen weint er leise undohne dass eine einzige Träne fließt. Bevor ich zu ihm gehe, husche ich schnell in mein Zimmer und hole zwei Tabletten aus dem Versteck im Schrank. Eine zur Beruhigung und eine zweite von denen, die mich erst kurz hochbringen und dann sanft nach unten schweben lassen. Die zweite ist eine von den Hämmern, das Antidepressivum. Ich schlucke die Pillen im Bad, mit Wasser aus dem Kaltwasserhahn. Es ist lauwarm und schmeckt abgestanden. Dann gehe ich und kümmere mich um Tom.
Er sitzt aufrecht im Bett, der grüne Traktor liegt neben ihm. Er streckt mir die Arme entgegen, und ich hebe ihn hoch und drehe mich mit ihm im Kreis, bis er zu kichern anfängt. Dann stecke ich ihn wieder unter die Decke, und er lehnt sich ins Kissen zurück und hält meine Hand.
»Eine ’schichte, Eala«, sagt er, und ich lege mich neben ihn.
»Eines schönen Tages traf Peter, der Panzer, ein Rudel Teekannen, die …«
»Buch ... Buch ’esen ...«
Warum eigentlich nicht? Warum soll ich ihm die Geschichte nicht vorlesen? Ich muss ihm ja nicht gleich erklären, wer das Buch geschrieben und gemalt hat.
»Warte, ich hol das Buch.«
»’rücke«, sagt er und gluckst schon bei dem Gedanken an meine dämliche rote Lockenperücke.
»Aber nur, wenn du nicht über mich lachst«, sage ich und spüre, wie mein Gesicht auftaut, wie ein Lächeln es wärmt, auch wenn es ein blödes Lächeln ist.
Tom nickt und drückt das Gesicht ins Kissen, damit man nicht sieht, dass er kichert. Das Buch ist in Dads Arbeitszimmer. Ich muss das Licht nicht anmachen, weil ich weiß,in welchem Regal ich die Peter-der-Panzer-Bücher finde. In der Ecke neben dem Fenster steht die Schaufensterpuppe und wacht über Dads Geheimnisse. Sie hat keine Augen, keinen Mund und keine Ohren.
Auf dem Weg in mein Zimmer höre ich sie unten im Wohnzimmer leise reden. Ich wette, sie reden über mich und meinen seltsamen Auftritt von vorhin. Du musst deinen Mund halten , sagt Angie , und nicht mit jedem Blödsinn herausplatzen, der dir gerade einfällt, sonst glauben sie irgendwann, du bist auch verrückt. Von
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