Jimmy, Jimmy
ausgezogen ist. Wir waren unten in seinem Zimmer. Am Fußende des Bettes stand sein kleiner Rollkoffer, den Mam und er schon gepackt hatten. Dad lag auf dem Bett, ob glücklich oder traurig, war schwer zu sagen. Er hatte seine Tabletten genommen und schwankte zwischen aufgekratztem Reden und ausdauerndem Gähnen. Ich hatte auch was eingeworfen. In der Tasche meiner Jeansjacke hatte ich die Zidane-DVD, die ich in seinem Zimmer ausgegraben hatte. Cruel to be kind , dachte ich, so heißt ’ s doch in dem Song, oder? Ich saß im Sessel neben seinem Bett wie ein Besucher im Krankenhaus.
»Du bist schon reisefertig?«, sagte ich.
»Reisefertig, ja.«
»Es macht dir nichts aus zu gehen, stimmt’s? Ich meine, es ist ja auch nur für zwei Wochen.«
»Nein, es macht mir nichts aus«, sagte er gähnend und sich streckend. »Ich muss mal raus aus der Bruchbude.«
»Du könntest nach oben ziehen, wenn du wolltest.«
Er drehte sich vom Rücken auf die Seite, stützte sich auf den Ellbogen und schaute in den abendlichen Regen. Ich sah nur noch seinen Rücken.
»Ich meine das ganze Haus«, sagte er. »Es ist so alt. Hast du ihm schon mal zugehört?«
»Zugehört? Dem Haus?«
»Nachts. Das Knacken. Das Klopfen und Gurgeln in den Leitungen. Bald wird die ganze Bude zusammenkrachen.«
»Das Haus hier kracht ganz bestimmt nicht zusammen.«
Jetzt schaute er sich im Zimmer um. Die Bilder an den Wänden, den Fernseher, die Regale mit den DVDs – er schaute alles an, nur mich nicht.
»Kommt Marta noch mal zurück?«, fragte er.
»Wenn du wieder zu Hause bist.«
»Sie kommt aus einem kleinen Dorf in den Bergen. Es fehlt ihr sehr«, erzählte mir Dad. »In dem Dorf gibt es nur drei Straßen, die Obere Straße, die Mittlere Straße und die Untere Straße. Sie bauen dort Wein an, und über dem Dorf steht eine alte Ruine, die nennen sie Dreimädchenschloss.«
»Klingt schön.« Wenn es so schön ist , dachte ich, warum verziehst du dich nicht dahin, Marta?
»Menschen sollten nicht irgendwo leben müssen, wo sie nicht leben wollen. Tiere auch nicht. Der arme alte Argos. Ich hätte ihn nicht schlagen dürfen.«
Ich stand vom Sessel auf und ging zum Fenster. Dann zog ich die DVD heraus.
»Ich möchte dir was zeigen.«
»Was?«
Tief drinnen wusste ich, dass ich etwas Verantwortungsloses tat, aber alles, was ich denke und fühle, ist im Augenblick eben nur tief in mir drinnen, tief unter dem Nebel in meinem Kopf. Ich ging zum Fernseher und legte die DVD ein.
»Du bist dünn, aber ich kann trotzdem nicht durch dich durchsehen«, sagte er mit hoher, aufgeregter Stimme.
Ich ging auf Szenenauswahl und pickte irgendeine Szeneheraus. Die Musik war cool, Drums und eine starke Basslinie über einem Elektrosound. Ich trat beiseite.
»Ist das der Mann , Jimmy?«
Dads Augen wurden groß. Sein Mund stand offen, als würde er gleich anfangen zu sabbern. Er sah erschrocken aus. Blöd. Sieh doch nicht immer so blöd aus, Dad! Er fingerte an seiner Armbanduhr, drückte die Knöpfe. Aber er konnte die Augen nicht vom Bildschirm losreißen. Zidane im schwarz-weißen Real-Madrid-Trikot. Es ist ein Flutlichtspiel. Die Kamera folgt nicht dem Spiel, nur ihm, jeder seiner Bewegungen. Seine Augenhöhlen sind kleine dunkle Seen im glänzenden Weiß. Er macht diesen Trick, wo er den Ball mit der Sohle mitnimmt, und stürmt dann los. Manchmal sieht man keinen der anderen Spieler und auch kein Publikum. Er schaut. Er schaut die ganze Zeit und scheint Dinge zu sehen, die außer ihm niemand sehen kann.
»Ist er das?«, fragte ich.
Er schaute mich an, als wollte er sagen: Warum tust du mir das an? Dann wurde sein Gesichtsausdruck härter.
»Wenn er hierherkommt, bring ich ihn wieder um, ich schwör’s«, sagte er.
»Wieder?« Das Wort rutschte mir schnell heraus, aber dann brauchte ich eine Weile, bis ich weiterreden konnte. »Es ist in Ordnung, Jimmy, du kannst es mir sagen. Es ist unser Geheimnis. Sag mir, woran du dich erinnerst.«
»Feuer auf dem Wasser?«
Ich kniete mich neben das Bett und packte ihn am Arm.
»Versuch dich an mehr zu erinnern!«, sagte ich. »Was hat der Mann getan, dass du ihn umgebracht hast?«
»Ich weiß nicht. Ich war noch klein, wirklich klein, Eala«,sagte er. »Es geht mir schlecht, Eala. Mir wird schwindlig. Schalt das aus, bitte!«
Er verzog das Gesicht und schluchzte schwer. Ich sah, dass ich ihn quälte und dass er mir das übel nahm. Ich konnte ihm nicht noch mehr Fragen stellen.
»Jimmy, das ist ein Film
Weitere Kostenlose Bücher