Joanna Bourne
auf dem Spielfeld. Für jemanden Eures Alters ist das nicht verwunderlich. Robert, bring Mademoiselle Annique doch mal zur Vordertür und öffne sie für sie.«
Colonel Reams sprang mit hochrotem Kopf wie ein wütender kleiner Kampfhahn auf. »Sie ist eine französische Staatsangehörige. Sie haben kein Recht dazu. Das Mädchen gehört verdammt noch mal mir.« Eigentlich hätte er mit seinem Schwabbelbauch und der in der Hand zerknüllten Serviette wie eine Witzfigur wirken müssen. Doch für jemanden, der vielleicht schon bald in seinem Keller verhört werden würde, war er alles andere als lächerlich.
Doch dann war Grey schon an ihrer Seite und geleitete sie zielstrebig und ohne auf den Colonel einzugehen aus dem Zimmer, wobei er sich schützend zwischen ihr und dem Gift und Galle spuckenden Männchen positionierte. Es war Reams, der zurückwich. Er fuhr herum und fauchte den mit gleichgültiger Miene dasitzenden Galba an, der eine Gefährlichkeit besaß, die dem Colonel gar nicht bewusst war.
Sein wütendes Geschrei begleitete sie durch die ganze Halle bis in den schwach erleuchteten Empfangsraum, wo Grey die Vordertür aufschloss. Ein kühler Abendwind empfing sie.
Sie blieben im Türrahmen stehen, und Grey blickte wachsam zu den gegenüberliegenden Häusern. Vermutlich zog er Heckenschützen in Betracht.
»Der Colonel befürchtet, dass du mich hier herausspazieren lässt. Ganz schön dumm von ihm, nicht wahr?«, fragte sie.
»Er ist ein selbstsüchtiger Hurensohn.«
»Das auch.« Sie blickte auf die ruhig in der Abenddämmerung liegende Straße. »Du hast mir, wie von Galba befohlen, die Tür geöffnet. Irgendetwas willst du mir zeigen. Ich habe eine Ahnung, was es sein könnte.«
»Natürlich hast du die.« Er deutete auf die große, schwarze und direkt vor dem Haus wartende Kutsche. »Das ist Reams’ Kutsche. Die quietschfidelen jungen Männer, die darin sitzen und so ein großes Interesse an dir haben, stammen aus seiner geheimen Abordnung von Marinesoldaten. Er hat drei mitgebracht.«
»Drei? Dann sollte ich mich wohl geehrt fühlen.«
»Du bist eben kein namenloses Blatt in Spionagekreisen. Trotzdem können sie uns egal sein, da Reams dich nicht anrühren kann. Behalt das immer im Hinterkopf. Jetzt sieh aber mal nach rechts die Straße rauf.« Grey hatte den Arm um sie gelegt; nicht um zu verhindern, dass sie weglief, sondern damit sie sich wohlfühlte. »Nummer sechzehn, mit dem Fenster auf der Frontseite, wo das Licht ist. Das ist Souliers Agentin, die liebenswürdigerweise ein Auge auf uns hat. In ihrem Garten hinter dem Haus pflanzt sie Kräuter an und schenkt uns jedes Jahr zu Weihnachten duftende Lavendelbeutel. Heute Abend hat sie Gäste. Stattliche Franzosen. Gerade jetzt stehen sie am Fenster und beobachten uns.«
Er ließ das eine Weile bei ihr sacken, dann sprach er weiter: »Wenn Soulier Order von Fouché erhält, hat er keine Wahl.«
Am Himmel zeigte die untergehende Sonne ein lebhaftes Farbspiel. Die Linden, die auf dem schmalen Grünstreifen in der Straßenmitte standen, rauschten leise im Wind. Sie wussten beide, dass Fouchés Todesurteil London schon längst erreicht haben konnte. »Keine leichte Zeit für Soulier.«
»So ist es. Über Leblanc wissen wir im Moment noch nichts. Wahrscheinlich hält er sich schon in London auf. Aber lass uns das jetzt hier zu Ende bringen. Schau mal nach links.« Ein Karren mit einem Pferd davor stand auf der Straße. Hacken, Schaufeln und ein Haufen Ziegelsteine lagen verstreut auf dem Fußweg herum. Zwei Männer reparierten weit über die normale Arbeitszeit hinaus eine Ziegelsteinmauer vor einem der Häuser. »Unsere hiesigen Zarenagenten.«
»Ich lerne gerade Russisch. Es ist zwar ein Land, in das Frankreich noch nicht einmarschiert ist, doch ich möchte vorbereitet sein.«
»Ich nehme an, dass dir dein außergewöhnliches Gedächtnis eine große Hilfe beim Sprachenlernen ist. Wen haben wir da noch? Die französischen Royalisten sind oben in der Braddy Street, zwei oder drei Grüppchen. Meist haben sie sich gegenseitig im Visier. Es ist schwer, die Royalisten auseinanderzuhalten. Manchmal sind sie sich selber nicht sicher, wohin sie gehören.«
»Sind das alle?« Sie fühlte sich furchtbar müde. Kaum vorstellbar, dass so viele Menschen Interesse an ihr haben sollten. Verkehrte Welt. Sie konnten unmöglich wissen, was sich in ihrem Kopf verbarg.
»Einer noch. An der Ecke. Siehst du den Straßenkehrer, der gerade auf die andere Seite
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