Joanna Bourne
Gewahrsam nehmen. Nur vorübergehend. Man würde sie gut behandeln.«
»Nein«, lehnte Grey ab.
»Ihr habt mein Wort.« Er wechselte den Stock von der rechten in die linke Hand. »Sehen Sie, Major, Sie sind Infanterist und verstehen deshalb, wie wichtig – «
»Nein.«
»Ich werde Reams deutlich machen, dass sie nicht … Das heißt, ich sehe ja, wie jung sie noch ist. Ich werde veranlassen, dass er sie mit dem höchsten Respekt behandelt.«
Sicher würde er das. Aber er wusste auch, dass es bedeutungslos wäre. Er würde sie Reams zum Schänden und Foltern überlassen und sich kaum länger als einen Abend schlecht fühlen. Nicht länger als fünf Minuten des Folgetages würde er Bedauern empfinden. Und danach hätte er sie ganz vergessen. Die Briten nannten das »das Unumgängliche beklagen«.
Grey sagte: »Das kommt gar nicht infrage!«
»Sie ist eine französische Agentin und in militärische Geheimnisse eingeweiht. Wir – «
»Mir ist egal, ob sich in ihrem Korsett verschlüsselte Marinebotschaften verbergen. Diesem Mistkerl wird sie nicht in die Hände fallen.«
»Es reicht, Robert. Du hast deinen Standpunkt klargemacht.« Galba legte eine Hand auf die hohe Rückenlehne des roten Sofas und schuf so eine Barriere, womit er den Eindruck erweckte, als wäre Grey äußerst gefährlich und müsste zurückgehalten werden. »Der Militärgeheimdienst hat kein rechtmäßiges Interesse an Miss Villiers. Ihre Arbeit war immer politischer Natur und niemals gegen England gerichtet.«
Es war an der Zeit, dass sie sich einbrachte. Sie tat einen zögernden Schritt auf den Lord zu, während sie Tränen in ihre Augen steigen ließ. »Bitte. Der Colonel macht mir wirklich Angst. Bitte schickt mich nicht zu ihm.«
Cummings schaute sie nicht direkt an. Oh, wie gut sie diese Art Mann kannte. Von irgendeinem gemütlichen Büro in London aus erteilte er seine Befehle und war nie zugegen, wenn Frauen in Kellern gefoltert oder Artilleriefeuer auf Städte gerichtet wurden, deren Schutt Kinder unter sich begrub.
»Sie gehörte zu Vaubans Kader. Vauban stand in direktem Kontakt zu dem Verräter im Inlandsgeheimdienst. Aus allen Bereichen meiner Abteilung sickern geheime Informationen durch, und sie weiß eventuell den Namen desjenigen, der sie preisgibt. Du musst sie mir ausliefern, Anson.« Der Lord hatte seine Maske fallen lassen und sah jetzt gar nicht mehr nach einem Trottel aus. Seine Worte kamen hart und gezielt wie Hufnägel.
»Eure verdammte Inkompetenz gibt dem Militärgeheimdienst noch lange nicht das Recht, in meine Operation einzugreifen«, knurrte Grey.
»Dies ist eine Militärangelegenheit. Sie fällt in meine Zuständigkeit. Je eher Reams diesen Namen aus ihr herausbekommt … «
Sie dachte blitzschnell nach. »Aber der Verräter sitzt doch in Reams eigenem Büro. Es ist sein – «
Alle drehten sich zu ihr um. Sie hob die Hand an den Mund, als habe sie zu viel gesagt. Dieu . Jetzt bloß auf die Lippe beißen und stammeln wie ein Schulmädchen. Mehr erwartete dieser Lord gar nicht von ihr.
Seine Lordschaft war wie erstarrt. »Was soll das heißen, in Reams eigenem Büro?«
»Sei still, Annique«, zischte Grey schnell. »Du solltest nicht darüber reden.« Man hätte schwören können, dass sie das geplant hatten, so übergangslos, wie er den Faden aufgriff.
»Aber Ihr dürft nicht zulassen, dass Colonel Reams mich bekommt.« Sie überzog ihre Stimme mit einem Hauch von Angst. Eine Rolle aus den Gefühlsbausteinen erschaffen, die einen bereits erfüllten – das war wahre Kunst. »Wenn Ihr mich zu ihm schickt, werde ich nicht mehr lange zu leben haben. Tut mir das nicht an.«
»Reams wird dich nicht anrühren.« Mit Grey war nicht zu spaßen. Sie glaubte nicht, dass es nur gespielt war. »Das hier ist die reinste Zeitverschwendung. Er schüchtert Annique nur ein«, wandte er sich an Galba, »und außerdem sind wir spät dran.«
»Ich verlange zu erfahren, was sie damit meint.« Der Aristokrat zappelte beinahe vor lauter Wut.
»Unsere Untersuchungen haben gerade erst begonnen.« Galba nahm seinen Hut von der hässlichen Anrichte. »Es ist schon viel zu viel gesagt worden. Überlass sie uns, Cummings. Keiner hat auch nur das geringste Interesse daran, sie Colonel Reams auszuhändigen.«
Lord Cummings sagte keinen Ton mehr. Ihm gingen gerade viele Dinge durch den Kopf. Sie hatte recht daran getan, ihn nicht für einen Dummkopf zu halten.
Galba nahm ein paar kleine schwarze Bücher von der Marmorplatte
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