Joanna Bourne
hier in England immer noch das Sagen und eine gewaltige Macht.
Dann stupste Grey sie in den Rücken, was bedeutete, dass sie weitergehen sollte, was sie aber auch gleichzeitig von ihrer Panik befreite. Grey würde sie nicht aufgeben, nicht für ein paar Tausend englische Aristokraten.
Galba räumte ein: »Das stimmt weitgehend.«
»Unsinn. Nun, ich kann mir durchaus denken, was passiert ist.« Der Aristokrat gab ein herzhaftes, vornehmes Lachen von sich. »Reams ist hereingeplatzt und hat sich danebenbenommen. Hat jeden beleidigt, der ihm über den Weg lief. Er ist nicht unbedingt ein Gentleman, unser Colonel. Aber nützlich, sehr nützlich. In Zeiten des Krieges müssen wir solche Männer dulden.«
Galba sagte: »Ich werde Reams dulden. Aber was ich auf keinen Fall dulde, ist seine Einmischung in die Angelegenheiten des Geheimdienstes.«
Der Anzug des feinen Pinkels raschelte bei jedem Schritt. »Ganz recht, ganz recht. Deine Männer hier gönnen sich einen Happen von dieser französischen Mieze, Reams stolpert wie ein Tölpel herein, macht einen Riesenwirbel und verlangt, etwas abzubekommen. Eine Nervensäge, dieser Kerl. Und jetzt müssen du und ich irgendwie die Wogen glätten. Ich sag dir was. Ich packe unser französisches Kätzchen ein und bring sie in neutrales Gebiet. Ich habe nämlich ein paar Marinesoldaten mitgebracht. Dann lasse ich unsere Junghenne unterwegs irgendwo aussteigen, und wir können die Sache als beendet ansehen.«
Grey schob sie mit größter Kaltblütigkeit weiter vor sich her die Treppe hinunter und durch die Halle.
Im Salon stand Galba vor dem schweren, hässlichen Büfett, über dem ein Spiegel hing, und zog sich Handschuhe an. »Miss Villiers bleibt bei uns.«
»Zum Teufel, Mann. Das hier ist nicht eines deiner politischen Spielchen. Das ist ein Fall fürs Militär.«
»Und ich sage, das ist es nicht. Willst du mit mir im Namen des Colonels über Vorrechte streiten?«
»Und willst du etwa wegen eines französischen Schoßes, an dem dein Chef der Englandabteilung Gefallen gefunden hat, auf deine Zuständigkeit pochen?« Der Lord bohrte seinen Gehstock in den Teppich. Von Minute zu Minute verlor er mehr von seinem albernen und nörgeligen Gehabe. Sie fochten einen Machtkampf aus, diese beiden Männer. »Wenn das hier herauskommt, sieht deine Organisation – «
» Wird es denn herauskommen? Wir hatten gehofft, dass die Lecks in deinem Büro endlich gestopft wären.«
Grey wählte diesen Moment, um sie hineinzuschieben.
»Ah, Robert. Zur rechten Zeit.« Galba streckte die Hand aus. Sie hatte keine andere Wahl, als sich von ihm direkt unter die Nase dieses hochnäsigen Lords und mitten in ihr Spielchen ziehen zu lassen. »Annique, erlaubt mir, Euch mit Lord Cummings bekannt zu machen.«
»Deine Nichte? Ein reizendes Kind. Reizend, Anson, wir sollten das Gespräch in deinem Büro fortsetzen.« Dieser Lord Cummings war nicht an ihr interessiert. Er hielt es aufgrund ihres hübschen Aussehens nur für angebracht, kurz etwas Höflichkeit an den Tag zu legen.
»Aber nicht doch.« Sie blickte ihn unter ihren Wimpern hervor an und knickste. »Ich bin Anne Villiers, Mylord.«
»Villiers. Villiers? Das ist … ?« Der Gesichtsausdruck des Lords erstarrte zusehends. Ah, vorzüglich. Colonel Reams hatte dafür gesorgt, dass er ziemlich lächerlich wirkte. »Reams sagte, sie wäre eine … Reams sagte, sie wäre … älter.«
»Da hat Reams sich geirrt«, erwiderte Galba nüchtern. »Ich hoffe, Ihr habt gut geschlafen, Mademoiselle.«
Grey antwortete an ihrer Stelle. »Sie hat ziemlich gut geschlafen.«
Na dann. Diesem englischen Lord konnte nicht entgangen sein, dass sie jetzt Greys Geliebte war. Sie ging schnell ihre verschiedenen Alternativen durch und entschied sich für die Rolle der jungen Schüchternen, da sie viele Möglichkeiten beinhaltete. Als sie an einige der Dinge dachte, die sie letzte Nacht mit Grey im Bett getan hatte, schaffte sie es zu erröten … eine Meisterleistung der Täuschung. Sie war stolz, sie zustande bringen zu können, besonders vor Grey, der ihre Begabung auf diesem Gebiet zu schätzen wüsste.
Da sie noch immer ihren Hut in der Hand hielt, ließ sie ihn in kindlicher Manier an der Schnur baumeln. Es konnte nicht schaden, dem Lord etwas vorzuspielen.
Lord Cummings räusperte sich. Sein Blick sprang zwischen ihr und Grey, der mit finsterer Miene aus dem Fenster auf die wartenden Kutschen sah, hin und her. »Man könnte sie in vorübergehenden
Weitere Kostenlose Bücher