Joanna Bourne
verteilten Scherben, Krümel und Kaffeeflecken und den auf der Seite liegenden Löffel. Ihr Kopf tat höllisch weh.
»Sehr teuer. Crown Derby.«
»Ich würde mich besser fühlen, wenn ich jemanden umbringen könnte. Da bin ich mir fast sicher. Wie dumm von euch, hier überall Messer herumliegen zu lassen.« Sie hatte es ihr Leben lang vermieden, einen Menschen zu töten, aber es war nie zu spät, damit anzufangen. »Nachdem ich dich erstochen habe, könnte ich dieses Haus abfackeln. Das wäre nicht so schwer. Dann könnte ich die unzähligen, von euch so heiß geliebten Akten verbrennen.«
»Fang bei diesen hier an.« Er zeigte auf den unförmigen Haufen Papier am Boden. »Ich helfe dir.«
Sie brach nicht wieder in Tränen aus. Wahrscheinlich würde sie in ihrem ganzen Leben nie wieder weinen. Sie wollte Grey halten und wie ein Schwächling in seinen Armen zusammenbrechen, hätte ihn aber gleichzeitig genauso gerne umgebracht.
Im Laufe der Zeit hatte der Kaminvorleger durch den Funkenflug Hunderte kleiner Löcher bekommen. »Mein Vater war ein großer Mann.«
»Ein ganz großer«, stimmte Grey ihr zu. »In Harrow haben wir über ihn diskutiert … nachts im Gemeinschaftsraum. Was er schrieb, und was er und die anderen in Lyon taten. Ich war schon allein von der Lektüre seiner Werke ein halber Revolutionär.«
Neben ihr stand einer der im Zimmer reichlich vorhandenen, wuchtigen Sessel. Er war alt und zerschlissen, da schon viele Spione in ihm gesessen hatten. Für Grey und die anderen war dies eine Zuflucht, ihr Ort zum Reden und Lesen, der sie ihre Arbeit vergessen ließ. Das Herzstück des Hauses. Diese klugen und furchterregenden Männer hatten sie hierhergebracht, um sie in ihrer Zuflucht, in ihre Interessen einzuschließen, während sie sie fertigmachten.
Sie schluckte. »Ich kann kaum glauben, dass mein Vater ein Engländer war.«
»Waliser.«
»Sei nicht so kleinlich. Diesen Unterschied würde nur ein Engländer bemerken, genauso wie nur eine Forelle zwischen Forelle und Zander unterscheiden würde.«
Das Kaminfeuer war frisch entfacht worden. Sie hatten es angezündet, um es ein bisschen behaglicher für sie zu machen, da sie sonst nichts für sie tun konnten. Wenn einem das Herz herausgerissen wird, ist einem hinterher ziemlich kalt.
Sie schlang sich die Arme um den Leib, doch es war nicht das Gleiche, wie in Greys Armen zu liegen. »Einmal, mit vierzehn, haben mich Russen aufgegriffen.« Zu reden war, als würde ihre Kehle aufgeschlitzt werden, doch es schmerzte nicht so sehr wie zu schweigen. »Man hatte mich, was schnell mal passiert, verraten. Sie kannten meinen Namen. Als ihn einer von ihnen hörte, wusste er sofort, wessen Tochter ich war. Sie hatten alle, auch die Offiziere, Papas Bücher gelesen und wussten, wie er gestorben war. Und sie ließen mich frei. Mit dem Verhören hatten sie noch gar nicht richtig angefangen. Ich habe nicht mal eine Narbe davongetragen.«
Grey war ganz starr vor Zorn auf diese Russen aus längst vergangenen Tagen. »Keine Narben. Wie schön.« Manchmal konnte er so zynisch sein.
»In Ländern weit außerhalb Frankreichs wurde mein Leben geschont, weil man etwas mit dem Namen meines Vaters anzufangen wusste.«
Er war zu dem Schluss gekommen, dass es jetzt wieder ungefährlich war, sich ihr zu nähern. Also trat er zu ihr und legte ihr von hinten die Hände auf die Schultern. Es tat so gut, festgehalten zu werden. »Dein Vater war ein tapferer Mann.«
»Ich war da, weißt du. Am Tag des Marsches. Sie waren unbewaffnet, hatten nicht einmal ein Taschenmesser bei sich. Die Weber, die am Verhungern waren, gingen zum Rathaus, wo sie auf Männer mit Waffen trafen. Sie wussten, dass dies für einige den Tod bedeuten könnte. Sie haben nur um den ihnen rechtmäßig zustehenden Lohn gebeten … mehr nicht. Jeder französische Schuljunge kennt die Namen derjenigen, die am Galgen starben.« Der Eisklumpen, welcher ihr Magen war, fing an zu schmelzen. »Ich war immer stolz, seine Tochter zu sein.« Das hatte sich nicht geändert. Einige Wahrheiten – die wichtigsten – galten auch weiterhin. »Er hatte diesen Marsch nicht angetreten, weil er für England spionierte. Er hatte es für diese Leute getan. Er liebte Frankreich und ist für das Land in den Tod gegangen.«
»Er war ein Mensch, der in der Lage war, mehrere Nationen gleichzeitig zu lieben.«
»Mein Vater hätte mich nicht belogen. Hätte er noch erlebt, dass ich alt genug wurde, um mich mit ihm unterhalten zu
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