Joanna Bourne
Schachspielen noch beibringen. »Da sind wir uns einig. Ich wünschte, meine Unterhaltungen mit dir bestünden nicht nur darin, dass du Dinge sagst, denen ich zustimme, woraus du dann Schlüsse ziehst, die ich gar nicht glauben möchte.«
Hinter all ihren sorglosen Sprüchen steckte eine ungeheure Disziplin. Nicht ein Mal wanderte ihr Blick zur Frontseite des Hauses. Selbst er konnte keinerlei Anzeichen dafür erkennen, dass all ihre Sinne vollends auf die Rückkehr der Kutsche ausgerichtet waren.
Robert und die anderen ließen sich viel Zeit. Die Verhandlungen mit Lazarus waren wohl schwieriger als erwartet.
»Wenn man ein Geheimnis besitzen kann, dann kann es auch den Besitzer wechseln«, fuhr er fort.
»Ganz sicher. Geheimnisse sind sehr flatterhaft. Ich selbst habe zu meiner Zeit mit einigen die Fliege gemacht.« Mit einem durch und durch französischen Achselzucken nahm sie den Verlust ihres Springers hin und setzte ihre Dame in Bewegung, um seinem Läufer listig aufzulauern.
»Können sie auch treu bleiben? Gehören meine Manschettenknöpfe auch weiterhin mir, obwohl sie in der Schublade von Roberts Kommode aufbewahrt werden?« Er zog einen Springer. »Der Schublade gehören die Geheimnisse nicht.«
»Ha. Du willst also damit sagen, dass die Geheimnisse in meinem Kopf nicht mir gehören. Da bin ich anderer Meinung.« Sie schlug seinen Läufer und murmelte: »Das bringt mir nichts. Ich glaube, du spielst nur mit mir.«
»In der Tat.« Er zog einen Bauern. »Schach.«
»Aber wo denn? Du hast doch gar nicht … Oh.« Sie biss sich auf die Lippe. »Das ist doch Schummelei. Jetzt hast du deinen Turm so lange nicht bewegt, dass ich ihn ganz vergessen habe.« Sie berührte die Dame. »Ich kann deutlich sehen, wie ich dieser Falle entkommen kann, daher ist es wahrscheinlich viel subtiler, als es auf den ersten Blick scheint. Grand-père , mein Kopf ist keine Schublade. Mir ist egal, wer die Geheimnisse hineingelegt hat oder sie braucht. Jetzt gehören sie mir, und ich werde entscheiden.« Sie zog die Dame.
Er brachte den letzten Bauern in Stellung. »Genau. Jetzt sind es keine französischen Geheimnisse mehr, sondern sie gehören dir. Du musst nach deinem Gewissen über sie verfügen. Das bedeutet Schachmatt in drei Zügen.«
Sie starrte das Brett an und brauchte eine Minute, um sich die Züge auszumalen, und aufgrund ihrer unerschütterlichen Sturheit noch einmal doppelt so lang, um zuzugeben, dass sie geschlagen war. Sie stieß einen Unmutslaut aus und stand auf. »Ich weiß gar nicht, warum ich immer wieder Schach mit dir spiele, wo ich doch niemals gewinne.«
»Du spielst, weil ich dich darum bitte, Annique.«
Er legte erst den weißen König und die Dame nebeneinander in die mit Samt ausgeschlagene Schatulle und dann die rote Dame und den König. Es war immer wieder ein Vergnügen, diese alten Schachfiguren zu berühren. Seine Annique nahm sich einen Turm, einen Läufer und einen Bauern vom Tisch und fing an, damit zu jonglieren. Die Figuren schwebten wie Kolibris umher, während sie von ihren Händen geschickt umkreist wurden.
Er hielt fasziniert inne. Das Mädchen vereinte die merkwürdigsten Talente in sich. Sie hielt die Figuren nur mit den Fingerspitzen in der Luft und streifte sie wie eine sanfte Brise.
»Ich bringe Adrian gerade das Jonglieren bei.« Ihre Aufmerksamkeit war ganz auf die Schachfiguren gerichtet; völlig vertieft, ungehemmt und flink wie eine Katze. »Das kommt ihm beim Messerwerfen zugute und vertreibt ihm auf angenehme Art und Weise die Zeit. Doyle wird es nicht lernen. Es passe nicht zu seiner Persönlichkeit, sagt er, wenn auch nicht mit diesen Worten. Grey hat keine Zeit dafür, da du ihn ohne Erbarmen rund um die Uhr arbeiten lässt.«
»Ist das schwer? Ich meine, mit so verschiedenen Formen zu jonglieren?«
Sie fing sie auf. Eins, zwei, drei. Dann warf sie den Läufer so empor, dass er sich in der Luft drehte. »Aber sie unterscheiden sich doch nicht, diese Figuren. Sie haben ein Gewicht im Innern – kleine Steine vielleicht, so wie es sich anfühlt – was bei allen gleich ist. Man jongliert im Schwerpunkt.« Sie stellte die Figuren in einer Reihe am Rand des Brettes ab, damit er sie weglegen konnte.
Er hätte dieses Kind schon vor zehn Jahren nach England holen sollen. Was Lucille ihr angetan, was er gestattet hatte, war schon als kriminell zu bezeichnen. Es war eine von vielen weiteren bedauerlichen Tatsachen, mit denen er leben musste. »Finde den Schwerpunkt, und
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