Joanna Bourne
Mund, den Leblanc um jeden Preis stopfen muss. Ich weiß da etwas über ihn … Lasst mich frei, Monsieur, und er wird mir folgen, nicht Euch.«
Dieses Gasthaus konnte nicht mehr weit von Vaubans kleinem Dorf entfernt sein. Wenn Grey ihr doch nur helfen würde, dorthin zu gelangen. Vauban war jetzt alt und müde und sein Geist seit dem letzten Angriff völlig verwirrt. Von ihm würde sie keine Anweisungen bekommen, wie sie mit den Albion-Plänen verfahren sollte. Diese Entscheidung lag jetzt allein bei ihr. Aber sie könnte zumindest ein letztes Mal neben Vauban am Feuer sitzen, seine Hand halten und mit ihm über die wenigen Dinge reden, an die er sich noch erinnerte. In seinem Haus würde sie vertrauenswürdige Freunde finden, die sie zur Küste bringen konnten. Von da aus würde sie weiter nach England fahren und bei Soulier Zuflucht finden, um dann in Ruhe eine Entscheidung zu fällen … und später – vielleicht – Frankreich zu verraten.
Wenn Grey sich doch nur zur Vernunft bringen ließe … »Leblanc wird sich nicht an die Fersen von irgendwelchen uninteressanten britischen Spionen heften, um sie aus reinem Vergnügen niederzumetzeln. In unserem ›Spiel‹ verzichten wir darauf, uns gegenseitig abzuschlachten, da wir sonst alle auf der Strecke blieben. Ohne mich wäret Ihr sicher.«
Grey durchquerte das Zimmer. Zielstrebig. Dieser Mann würde nie einen Fuß vor den anderen setzen, ohne irgendetwas im Sinn zu haben. Als er zurückkam, brachte er etwas mit. Sie wusste es, wenn Leute etwas trugen, denn dann gingen sie anders. Das zu erkennen, hatte sie lange geübt.
»Das Kleid dürfte passen. Es ist blau. Und hört um Himmels willen auf, mich mit Monsieur anzusprechen. Allmählich wird es lächerlich, wenn Ihr mir nach dem Leben trachtet und mich im gleichen Atemzug Monsieur Grey nennt.« Er ließ ein Bündel Kleider in ihren Schoß fallen.
»Ich nenne Euch genau so, wie es mir gefällt. Ihr sagt ja auch die ganze Zeit Nein.«
»Zu Eurer Freilassung? Seid nicht albern. Natürlich werde ich Euch nicht freilassen. Was in aller Welt habt Ihr denn mit Euren Füßen angestellt?«
»Auch die gehen Euch nichts an.«
Er langte nach ihren Füßen und zog sie hervor.
Augenblicklich hatte sie die köstliche Vorstellung, ihn zu treten, ließ es jedoch bleiben, da er ihr eine höllische Angst einjagte. Außerdem würden sie, wenn sie ihn provozierte, nach kurzem Gerangel womöglich im Bett landen. Und dann würde sie vielleicht eine Riesentorheit begehen.
»Ihr werdet Euch noch eine Blutvergiftung holen, wenn Ihr so weitermacht.« Seine Stimme klang seltsam. »Die Schuhe passen Euch nicht.«
»Streng genommen sind es auch gar nicht meine Schuhe. Und es stimmt, sie passen nicht besonders gut, aber barfuß würde ich auffallen. Macht nicht so einen Wirbel um ein paar Blasen. Ich bin schon wochenlang mit schlimmeren als diesen hier unterwegs gewesen.«
»Hier sind drei Paar Schuhe. Eines davon wird Euch wohl besser passen, und wenn nicht, werde ich Euch andere besorgen.« Er hielt sie fest, aber nicht so behutsam wie sonst, sondern umklammerte sie förmlich. »Versucht bloß nicht, auf diesen Füßen zu fliehen, Annique.«
»Ah, was für ein schlauer Ratschlag. Ich werde meine Flügel ausbreiten und davonfliegen.« Es erstaunte sie immer wieder, wie selten man auf Spione mit Sinn für Humor stieß. Grey jedenfalls schien momentan überhaupt nicht zu Späßen aufgelegt zu sein.
Er ließ sie so abrupt los, dass sie in die Kissen fiel. »Zieht Euch an. Ihr habt zehn Minuten.«
Die Tür knallte hinter ihm zu, als er den Raum verließ. Es schien so, als wäre Grey ein Mensch, mit dem man keinen vernünftigen Umgang pflegen konnte, ehe er nicht gefrühstückt hatte. Maman hatte gesagt, dass das bei einigen Männern so war. Sie würde es sich merken.
8
Grey führte Annique mit einer kaum erforderlichen, unauffälligen Berührung zu einem Stuhl gegenüber Adrian. Sie war eine Expertin in Sachen Täuschung. Wenn Leblancs Männer nach einer blinden Frau fragen sollten, würde niemandem das dunkelhaarige Mädchen einfallen, das an diesem schönen Morgen in aller Öffentlichkeit auf der Terrasse vor dem Gasthaus gefrühstückt hatte.
Sie saß da und hielt den Blick sittsam gesenkt. Ihre Finger glitten über die Tischkante, bis sie die Serviette fand, die sie sogleich ausschüttelte und auf den Schoß legte.
Er bekam mit, wie Adrian in Anniques schöne, leere Augen blickte; sah die kurze Musterung, den Schock, das
Weitere Kostenlose Bücher