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Joanna Bourne

Joanna Bourne

Titel: Joanna Bourne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Geliebte des Meisterspions
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… Herrgott noch mal, wollt Ihr mich wohl ansehen, wenn ich mit Euch rede?«
    Es war so weit. Als er fast vor ihr stand, hob sie mit abgewandtem Gesicht den Kopf und öffnete die Augen.
    Dunkelheit. Wie immer. Seit fünf Monaten war da nichts als Dunkelheit. Sie erwartete schon gar nichts anderes mehr, wenn sie die Augen öffnete; nur manchmal, wenn sie aus dem Schlaf gerissen wurde und sich nicht gleich erinnerte, wo sie war.
    Abrupt blieb er stehen. Er war ein Mensch, der nicht das kleinste Geräusch machte, wenn er nachdachte. Entweder redete er oder war vollkommen still. Sie wartete ab. Nach einer Weile spürte sie einen Luftzug vor ihrem Gesicht. Manchmal wedelten die Leute so vor ihren Augen herum, um zu sehen, ob sie blinzeln würde.
    »Ihr seid blind.«
    »Ich bin nicht blind .« Es machte sie immer wütend, wenn sich Leute für so schlau hielten. »Ich kann nicht sehen, das ist alles.«
    »Gütiger Gott.« Er packte ihr Kinn und drehte ihren Kopf energisch von links nach rechts, obwohl sie ihm nichts weiter bieten konnte, als er sowieso schon sah. »Ich kann’s nicht glauben. Wie? Wann?«
    Aus irgendeinem Grunde sagte sie die Wahrheit. »Letzten Mai. Es war nicht einmal eine Schlacht. Nur ein Dorf und ein … ein Spiel für eine berittene Patrouille. Sie haben diesen friedlichen kleinen Ort aus purer Langeweile zerstört, weil sie bewaffnet waren und die Macht dazu hatten. Ich bekam einen Säbelhieb auf den Kopf.«
    Sie hätte nicht darüber reden sollen. Bilder der Erinnerung überfielen sie – die letzten, die sie mit ihren Augen hatte machen dürfen. Eine helle Tischdecke, die von den Pferden überrannt wurde. Eine dunkelhaarige Frau, deren langes Haar wehte, als sie zu fliehen versuchte. Ein Mann, brutal zu Boden geworfen. Wohin man auch sah … nur Tod. Selbst Frauen und Kindern war kein Entkommen beschieden. Ein Dorf voller unschuldiger Menschen ohne jede Chance auf Gegenwehr, gestorben wegen nichts und wieder nichts.
    Sie kniff die Augen zu, riss sich von ihm los und drehte sich um, wobei sie die Decke mitzog. Wie Winterkleidung, die man zusammengepresst in einer Kiste verstaut, nahm sie ihre Bilder des Todes, faltete sie ganz klein zusammen, legte sie in ihr Gedächtnis und schloss die Tür ab. Normalerweise dachte sie überhaupt nicht an diesen letzten Tag. Nur manchmal kam die Erinnerung wieder hoch, wenn sie schlecht träumte.
    »Man sieht gar keine Narbe«, meinte er.
    »Es sind ja auch nicht die Augen an sich.« Sie holte tief Luft. Wie sie es hasste, darüber zu sprechen. »Der Arzt an der Universität von Marseille – er war ein sehr wichtiger Mann mit unangenehmem Atem – sagte, es liege an der vom Säbel verursachten Kopfwunde. Irgendetwas drückt auf den Sehnerv, ein Blutklumpen oder ein Knochensplitter. Er warf mit vielen langen lateinischen Ausdrücken um sich, um meiner Mutter einen Haufen Geld für jedes dieser Worte aus der Tasche zu ziehen.«
    Zur Ablenkung machte sie mit einer Hand eine ausholende Geste, während sie sich mit der anderen über das Gesicht strich. Ein Zaubertrick. »Wenn dieses Etwas in meinem Schädel anfangen sollte herumzuwandern, würde ich nach dem, was dieser ach so wichtige Doktor meinte, eines Tages wieder sehen können. Um dann sehr wahrscheinlich im nächsten Augenblick zu sterben … oder auch nicht, was ebenso gut möglich wäre. Da wollte er sich nicht festlegen. Stattdessen hat er mir geraten, Schläge oder Stöße gegen den Kopf zu vermeiden, ein Ratschlag, den mir jeder hätte geben können, ohne mich vorher eine Stunde lang zu malträtieren. Ich für meinen Teil glaube, dass er doch nicht so schlau war.« Schwupps. Die Tränen waren weg. Vielleicht hatte er nichts gemerkt.
    »So seid Ihr also seit fünf Monaten.« Sie war sich nicht sicher, was da in seiner Stimme mitschwang. Mitleid war es jedenfalls nicht.
    »Ich bin nicht ›so‹ oder ›so‹. Ich bin ich, und das war ich schon lange vor diesen fünf Monaten. Ich bin mehr als nur meine Augen.«
    Er schnaubte ihr ins Gesicht, packte sie erneut und durchsuchte ihr Haar nach der dünnen, glatten Narbe über ihrer Schläfe. Mit den Fingerspitzen fuhr er sie nach. »Hier, nicht wahr?«
    »Wie ich Euch schon sagte.« Sie war wütend auf ihn, weil er sie auf diese Weise untersuchte und sie nicht wegkonnte. Nackt vor ihm zu stehen, war gar nichts im Gegensatz zu dem erbärmlichen Gefühl, das sie erfasst hatte, als sie ihr Geheimnis offenbarte. Sie wünschte … aus allerallertiefstem Herzen

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