Joanna Bourne
sie zu fassen.« Sie hob die Kaffeetasse mit artig gesenktem Blick und lächelte. Er hatte sich geirrt. In dem blauen Kleid sah sie doch nicht wie eine Hure aus, sondern jung, elegant und unbeschwert wie ein Schmetterling im Frühling. »Hast du jemals eine Frau geschlagen?«
Doyle musterte ihn. »Hab ich wohl irgendwie verpasst. Macht’s Spaß?«
»Nicht besonders. Danach kommt man sich wirklich mies vor.«
»War ’n Unfall, nehm ich an.«
»Ich war zu blöd. Das macht es nicht zu einem Unfall.« Er war der verantwortliche Beamte. Sie war seine Gefangene, und er hatte sie verletzt. Da war nichts zu entschuldigen. »Ich habe sie so hart auf den Solarplexus geboxt, dass ihr für eine Weile die Luft wegblieb. Ich glaube zwar nicht, dass sie einen bleibenden Schaden davonträgt, aber hab trotzdem ein Auge auf sie.«
»Ich habe auf alles ein Auge.« Doyle bückte sich und nahm den Huf der Stute so selbstverständlich auf, wie jeder Schmied es getan hätte. Nach einer kurzen Musterung holte er mit der freien Hand einen Kratzer aus der Jackentasche und räumte den Huf aus. Dabei ließ er sich Zeit. Ein Perfektionist, dieser William Doyle. Das hatte ihnen ein paarmal den Hintern gerettet. »Willst du darüber reden?«
»Ich habe mir von ihr eine Schlinge um den Hals legen lassen.« Mit einem Finger zog er das Halstuch beiseite und zeigte ihm den roten Streifen. Beim Schlucken hatte er immer noch Schmerzen.
»Wie zum Teufel hat sie … ?«
»Das verdammte Nachthemd. Das Band zum Zuschnüren.«
»Das Band. Oh, Himmel. Ich hätte daran denken sollen. Sie hat eine Garrotte daraus gemacht. Clever wie ein Schwarm Dohlen, das Mädchen.«
»Man könnte sagen, ich habe mein Ziel erreicht. Jetzt greift sie mich nicht mehr an. Weißt du eigentlich, wie grob man diese Frau anfassen muss, ehe sie aufgibt?«
Doyle setzte den Huf ab. »Ich kenne dich jetzt schon eine ganze Weile, Robert. Wie lange schon?«
»Zehn Jahre vielleicht.«
»Mindestens.« Er ging zum nächsten Huf und nahm ihn hoch. »Manchmal merkt man, dass du von der Armee kommst und dich nicht im Geheimdienst hochgearbeitet hast. Wärst du auch nur ein Jahr draußen als Spion unterwegs gewesen, wüsstest du, wie gefährlich unsere hübsche kleine Annique ist. Du würdest vergessen, dass sie Brüste hat, und tun, was getan werden muss. Und am nächsten Morgen würdest du ein herzhaftes Frühstück zu dir nehmen.«
»Ich habe gefrühstückt.« Die Antwort klang selbst in seinen Ohren gereizt.
»Aber jetzt nagt’s an dir. Bist ganz der Gentleman. Auf dass es dich das Leben koste.« Doyle knurrte und trat zurück. »Du bist seit dem Tag kein Gentleman mehr, an dem du in den Geheimdienst eingetreten bist.«
»Schön. Das nächste Mal stößt du ihr in den Bauch, und ich gebe tolle Ratschläge.« Auf der anderen Seite des Hofes kicherte Annique über etwas, das Adrian gesagt hatte. Der Klang erinnerte an gluckerndes Wasser, das aus einem Porzellankrug gegossen wurde … herrlich leicht, natürlich, vertraut, entspannt.
Es machte ihn total wahnsinnig. »Leblancs Männer könnten jede Minute hier einfallen, und sie sitzt da und kichert.«
Doyle folgte seinem Blick. »Das, mein Freund, ist pures Draufgängertum, durch und durch. Sie läuft um ihr Leben. In ganz Europa gibt es keinen Felsen, hinter dem sich dieses Mädchen verstecken könnte.«
»Leblanc will sie beseitigen. Das hat nichts mit den Albion-Plänen zu tun. Er hütet irgendein besonders abscheuliches Geheimnis. Irgendwelche Ideen?«
Doyle schüttelte den Kopf. »Bei Leblanc könnte das alles sein. Er ist ein widerlicher Mistkerl.«
»Was macht Fouché eigentlich?«
»Genau in diesem Augenblick wird er sich wohl fragen, warum ihm einer seiner Spione nicht Bericht erstattet hat.« Doyle imitierte einen Mann, der auf Fesseln starrte. Niemand wusste mehr über die Arbeitsweise des französischen Geheimdienstes. »Sie könnte zu ihm gehen – zu Fouché. Er wird nicht zulassen, dass Leblanc sie tötet, es sei denn, sie trägt sich mit der Absicht, Verrat mit den Plänen zu begehen, was ich bezweifeln möchte. Aber blind ist sie wertlos für ihn. Er wird sie wohl in das Bordell, das die Geheimpolizei im Faubourg Saint-Germain unterhält, stecken, zu den anderen Mädchen, damit sie auch dort arbeitet.«
Dieser Gedanke hinterließ einen faden Geschmack bei Grey. »Dekadenter Ort. Weiß sie davon?«
»Müsste sie eigentlich. Seit sie fünfzehn war, hat er versucht, eine Hure aus ihr zu machen. Die Mutter
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