Joanna Bourne
wünschte sie, sie wäre Grey entkommen, bevor sie gezwungen wurde, es ihm anzuvertrauen.
»Sie ist sauber verheilt«, stellte er fest.
»Mehr als befriedigend. Mir wurde gesagt, man sähe die Narbe nicht mehr, jetzt wo meine Haare nachgewachsen sind.«
»Ihr wart bei Eurer Mutter, als sie starb, oder? Wie habt Ihr es von Marseille nach Paris geschafft – blind?«
»Das geht Euch … « Sein Griff wurde fester. Besser, sie strapazierte seine Geduld heute Morgen nicht weiter. »Ich bin gelaufen.«
»Ihr seid … gelaufen? Ihr seid nicht einfach gelaufen. Nicht blind. Nicht allein.«
»Maman hat … « Der Schmerz schnürte ihr die Kehle zu. Maman war tot. »Maman hat … viele Freunde. Es war ihr eigenes Netzwerk, das sie sich im Laufe der Zeit auch schon vor der Revolution aufgebaut hatte. Sie haben mir geholfen.« So viele Menschen hatten ihr geholfen. Mamans Netzwerk. Freunde von Vauban. Freunde vom alten Soulier, dem Geheimpolizisten höchsten Ranges, der Mamans Geliebter gewesen war. Freunde ihrer Kollegen René und Françoise. Männer, die ihren Vater gekannt hatten. Freunde, die sie selbst mit den Jahren gefunden hatte. Mithilfe einer ganzen Legion normaler Menschen hatte sie es so weit geschafft. Menschen, die sie um einen Gefallen bitten konnte, der so wertvoll wie ein Leben war.
Die Briten wussten gar nicht, was für ein hervorragendes Gedächtnis sie besaß. In ihrem Kopf befand sich weit mehr als die Albion-Pläne und zahllose andere Geheimnisse. Fünftausend Namen und Adressen waren in ihrem Kopf gespeichert – Namen, die für Zuflucht und Hilfe in jedem Winkel Frankreichs standen. An einige von ihnen würde sie sich wenden, wenn sie Monsieur Grey endlich abgeschüttelt hatte. »Ich bin den ganzen Weg lang weitergereicht worden, bis ich verraten und von Henri zu Leblanc gebracht wurde.«
Er schwieg und erforschte lediglich diese Narbe, die doch eigentlich nicht so interessant sein konnte, da sie wie jede andere war. Danach griff er ihr tief ins Haar und verhinderte, dass sie den Kopf wegdrehte. Gott allein wusste, was er noch zu finden glaubte. Immerhin hatte er sie schon mehr als einmal betrachtet.
Es irritierte sie, von diesem Mann berührt zu werden. Sie wollte ihn nicht begehren. Dieser Drang hatte sie wie eine Krankheit befallen. Er war als Liebhaber genauso ungeeignet wie ein Pinguin oder der Schatten eines großen Baumes. Ein ungeschlachter, grimmiger Fremder, der nicht nur ein Feind, sondern auch noch Spion war … ein Beruf, den sie nicht gerade bewunderte. Ihre Wahl hätte nicht dümmer sein können.
Seine Finger durchkämmten die volle Länge ihres Haars, ehe er es fallen ließ. Sie fühlte sich sonderbar dabei, denn es lag eine Intimität darin, die noch nie zuvor jemand provoziert hatte. Mit diesem Mann und keinem anderen hatte sie schon etliche Dinge getan. Mehr als ihr lieb war. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was in seinem Kopf vorging.
»Ihr seid gut damit zurechtgekommen. Mit Eurer Blindheit.« Da war dieser Unterton … Vauban hatte den gleichen gehabt, wenn sie etwas getan hatte, wovon er beeindruckt war. Für Vauban wäre sie durchs Feuer gegangen, damit er so zu ihr sprach. Vielleicht gab es Männer, die das auch für Grey tun würden.
»Ich habe mich schon fast daran gewöhnt, abgesehen davon, dass es lästig ist und mich vielleicht bald das Leben kosten wird.«
»Ihr habt es gut überspielt. Ich habe überhaupt keinen Verdacht geschöpft. Nicht ein einziges Mal.«
»Es war ja auch die ganze Zeit dunkel, während wir zusammen waren. Oder ich habe mich schlafend gestellt, wie in der Kutsche.«
Da war wieder dieses nachdenkliche Schweigen. »Das machte es leicht, nach Gutdünken mit Euch zu verfahren, nicht wahr?«
»Henri war da ganz Eurer Meinung, Monsieur«, erwiderte sie höflich.
Unglaublich, aber er lachte. Er war wirklich der herzloseste Mensch, der ihr je begegnet war. Von ihm hatte sie nicht einen Funken Mitleid zu erwarten. »Ich bin nicht so dumm wie Henri. Ich habe vor, sehr gut über Euch zu wachen, Annique.«
Für einen Spionagechef war er ausgesprochen blöde. »Erkennt Ihr nicht, welche Auswirkungen das hat? Leblanc wird jeden Soldaten in Frankreich nach einer blinden Frau suchen lassen. Ich bin das Gefährlichste, was Ihr mit Euch herumschleppen könnt.«
»Dann ist es wohl besser, dass niemand von Eurer Blindheit erfährt.«
Er begriff es immer noch nicht. Wie konnte er nur so ein Narr sein? »Ich bin es, die Leblanc sucht. Es ist mein
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