Joanna Bourne
Kippt mir aber bitte nicht den Kaffee über den Schoß.«
Der Tisch verriet ihr, dass er sich bewegte. »Das überschwängliche Mitleid einer Frau. Würdet Ihr mich lieben, wenn ich Greys Muskeln und seine alle Franzosen überragende Größe hätte? Ich wäre nur ein halb so guter Spion wie jetzt, hätte ich seine Größe. Viel zu auffällig.«
»Ich empfinde nicht das geringste Mitleid für die Probleme eines englischen Spions in Frankreich. Auf keinen Fall würde ich meine Liebe an jemanden wie Euch verschwenden. Ihr solltet etwas essen, vor allem weil dieser Mann Euch heute die Kugeln entfernen will, wie Ihr sagtet.«
»Ich glaube nicht, dass essen hilft. Schon beunruhigend, wenn der Chirurg die Operation mehr fürchtet als der Patient. Wann hattet Ihr am meisten Hunger, Annique? Während des Terrors?«
Sie kaute und schluckte. Es war nicht so schlimm, darüber zu sprechen. »Ja, zu der Zeit, aber nicht in Paris. In den Jahren habe ich bei den Roma gelebt, den Kalderascha. Solch ein Leben ist im Winter sehr hart, wenn die Zeiten unruhig sind.«
»Dann haben Euch die Zigeuner gestohlen?«
»Die Geschichten stimmen nicht, was ein ach so intelligenter Spion wie Ihr doch eigentlich wissen müsste. Die Roma stehlen keine Kinder. Schließlich haben sie genügend eigene, da sie so gut wie jeder andere wissen, wie man Babys macht. Ist keine so schwierige Sache, falls Ihr Euch das gerade fragt.«
»Ich hörte davon. An Eurer Stelle würde ich nicht versuchen, das Brötchen zu verstecken. Da ist kein Platz unter Euren entzückenden Kleidern.«
»Dann ist dieses Kleid wohl doch nicht so züchtig«, stellte sie düster fest. »Das dachte ich mir schon.«
»Es ist reizend. Lasst das Brötchen bitte neben dem Teller liegen und hört damit auf, in meiner Gegenwart Brotkrusten zu klauen. Roussel ist gerade bei der Kutsche und reicht Körbe hinauf. Das würde für die Verpflegung einer kleinen Armee reichen. Das ist der Vorteil, wenn man von Grey entführt wird, Füchschen – Ihr werdet so lange gut zu essen haben, wie Ihr unter unserer Obhut bleibt.«
»Dann werde ich wohl eine Zeit lang gut versorgt sein.« In ihrem Magen war nur noch Platz für einen letzten Schluck Kaffee oder einen Bissen Brot. Sie wählte den Kaffee. Sie liebte Kaffee.
9
Garches, in der Nähe von Paris
» Imbécile .« Jacques Leblanc glättete die Karte und fuhr mit den Fingern über die Straßen der Normandie. »Du verschwendest meine Zeit mit deinem Gejammer.«
»Sie ist in Paris«, sagte Henri mürrisch. »Sie sind zu Fuß unterwegs, ohne Essen und Geld. Der Junge ist verwundet … «
»Der Junge ist bestimmt schon tot. Sie haben ihn längst in irgendeiner Allee liegen gelassen.« Leblanc rollte die Karte noch weiter aus. »Inzwischen haben sie Pferde. Vielleicht sogar eine Kutsche.«
»Der Engländer wird ins Gras beißen. Wenn Annique ihm entkommen ist, wird sie zu ihren Freunden nach Paris gehen. Warum sollte sie – «
»Sie hat überall Freunde. Sei still.« Mit Daumen und Zeigefinger steckte Leblanc ein paar Zentimeter an der normannischen Küste ab. »Das ist die Hochburg der Schmugglerei. Der Pfad nach England. Zusammen oder getrennt, verletzt oder nicht, hier müssen sie durchkommen.«
Wie lange würde der englische Spion brauchen, bis Annique zusammenbrach? Zwei Tage? Drei? Der Engländer war ein harter Hund. Sogar Henri fürchtete ihn.
Das Problem besaß eine einfache Logik. Man gebe dem Engländer drei Tage, um das Flittchen in die Zange zu nehmen und ihr das Versteck der Albion-Pläne zu entlocken. Dann … Leblancs Finger wanderte von einer Stadt zur nächsten über die Karte. Wo waren die Pläne in all den Monaten geblieben? Paris? Rouen? In der Nähe des Kanals? Vielleicht sogar in England. Das Mädchen könnte sie zur sicheren Verwahrung nach England geschafft haben, gleich nachdem sie Brügge verlassen hatte. Genug Zeit dafür wäre gewesen.
Es spielte keine Rolle, wo sie waren. Am Ende – und das war das große Handicap des Engländers – am Ende musste er den Kanal überqueren. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als an die Küste und in die dort ausgelegte Falle zu gehen.
Henri hatte nicht genügend Verstand, um zu schweigen. »Es gibt keinen Beweis, dass sie überhaupt bei ihm ist. Auch nicht, dass sie Paris jemals verlassen hat. Wir könnten die Suche auf – «
»Wir reden hier vom Füchschen, du Narr, nicht von einer deiner Poulettes . Sie ist den ganzen Weg von Marseille aus marschiert, obwohl sie blind
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